Arbeit und Struktur

Buchcover »Arbeit und Struktur«

Viel zu spät (8 Jahre, um genau zu sein) lese ich Wolfgang Herrndorfs postum veröffentlichtes Tagebuch-Blog »Arbeit und Struktur«. Von dem Autor, der 2010 eine Glioblastom-Diagnose bekam und der sich deshalb 2013 selbstbestimmt das Leben nahm, hatte ich bisher nur »Tschick« gelesen. Das fand ich, damals, ganz okay. Ich wusste aber, weil ich es immer mal wieder irgendwo aufschnappte, dass »Arbeit und Struktur« als sein treffenderes Werk gehandelt wird. Und es hat mich absolut fertig gemacht; ich fand es großartig.

Das Format: Tagebucheinträge, ursprünglich als Blog geschrieben; vielleicht eins meiner liebsten Textformate. Die Nüchternheit des Autors haben mich wütend gemacht; sein Blick für Details neidisch; der Fokus, mit dem er die Welt beschreibt ansteckend. Habe danach reflexhaft selbst komplett trocken, analytisch und in einer übertriebenen Fülle wieder Tagebuch geschrieben.

Hier sind einige Annotationen aus meiner Ausgabe:

Neben Passig und Hubrich ist Cornelius derjenige, bei dem es mich am meisten schmerzt, nicht zu wissen, wo er in zehn Jahren sein wird. Dieses unfassbare Potenzial, das nirgends hinsteuert. Vielleicht sitzt er dann bei Alexander Kluge. Oder versackt in Princeton. Oder redet weiter im Prassnik Leute an die Wand. (S. 45)

Das Wissen, dass das Leben vermutlich nicht mehr länger als ein paar Monate oder Jahre dauern wird, vermisst die Dinge neu. Vor allem misst man sich wohl nicht mehr so sehr mit der Welt. Wo werden meine Freunde in zehn Jahren sein?

Passig kommt zum Korrekturlesen für den fertigen Roman vorbei. (S. 64)

Immer wieder schreibt Herrndorf davon, wie er und seine Freunde durch die Arbeit (vor allem an Texten) verbunden sind. Das ist für mich die schönste Vorstellung: Wie Freunde vorbei kommen, um gemeinsam zu arbeiten, womöglich sogar bei der eigenen Arbeit helfen. Die eigenen Texte gegenlesen. Das ist mir zuletzt zu Unizeiten vor zehn Jahren passiert, und ich vermisse es.

Die Bewegung tut dem Körper gut, trotzdem heute wieder den ganzen Tag in Gedanken. Dann ist es nur eine Armlänge bis zum Wahnsinn und noch zwei Fingerbreit zum Nichts. Ich muss nur die Hand ausstrecken. Es wundert mich, dass es den anderen nicht so geht. (S. 74)

Ein Wahnsinnssatz, den man vielleicht ein bisschen nachfühlen kann, wenn man es kennt, sich in Gedankenstrudeln zu verlieren.

Der einfachste Weg zu gutem Stil: Sich vorher überlegen, was man sagen will. Dann sagt man es einfach, und wenn es einem dann zu einfach erscheint, kann das zwei Gründe haben. Erstens, die Sprache ist nicht aufgeladen genug von ihrem Gegenstand, oder der Gedanke ist so einfach, dass er einen selbst nicht interessiert. In diesem Fall löscht man ihn. (S. 284)

Gilt eigentlich für alles, was man macht und veröffentlichen will. Ich wünschte, dieses Mantra würden die Menschen auf Twitter wieder mehr verinnerlichen.

Merkwürdig und schön sind vor allem die Gedichte, die Herrndorf hier und da einstreut (z.B. S. 420):

Niemand kommt an mich heran
bis an die Stunde meines Todes.
Und auch dann wird niemand kommen.
Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Rowohlt 2013