Eine Begegnung wie im letzten Jahrtausend

SMS von R. »Ich war übrigens am Freitag seit etwa 1000 Jahren mal wieder in einem Club! Es war ganz toll! Ich geriet in so eine recht große Clique an lauter netten Leuten und habe sehr viel und ausgiebig getanzt, das hat gut getan. Jedenfalls war es so eine Art Kostümparty, könnte man sagen, mehr oder weniger. Und dann habe ich Fabian kennengelernt, und als ich irgendwann aufbrechen wollte, wollten wir in Kontakt bleiben. Und weil wir wegen der Kostüme beide unsere Handys an der Garderobe abgegeben hatten, hat er an der Bar nach einem Zettel und Stift gefragt, und mir seine Nummer aufgeschrieben?! Auf Papier. Wie im letzten Jahrtausend! Jetzt liegt hier dieser Zettel mit der Nummer, und immer wenn ich ihn angucke, fühle ich mich ganz jung.«

Drifter

Foto des Romans DRIFTER von Ulrike Sterblich

Nochmal kurz wegen Drifter … Ich hab jetzt ein paar Kapitel ein zweites Mal gelesen, vor allem auch die paar Stellen, die ich mit einem Eselsohr markiert hatte. Zum Beispiel hier, als Wenzel seinen FreeCell-Streak gebrochen hat und nun nie wieder einen 100% Erfolgsscore in diesem Kartenspiel haben wird. Da sagt Killer zu ihm dann am Telefon:

99,9 ist mehr als 100. Die Hundert ist ein geschlossener Raum, die 99 hat eine Öffnung. Du bist jetzt raus aus dem Escape Room.

Und dann weiter:

Egal wie nahe man der Perfektion ist, man sieht immer nur die Differenz, das, was fehlt. […] Man könnte sogar sagen, die Suche nach der Perfektion ist überhaupt der Fehler. Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.

Es gibt so ein paar Stellen im Buch, die sind, als wären man ein Teil dieser Freundschaft. Das hat es womöglich so magisch gemacht. Und natürlich die subtile magische Komponente, die sich durch das Buch zieht; die Namen der Charaktere (Ludovica Malabene?!); die Art, wie Wenzel erzählt. Das alles hat dazu geführt, dass ich dieses Buch so langsam wie möglich gelesen habe, weil ich so lange wie möglich etwas davon haben wollte. Ich hätte es aber auch einfach direkt in einem Zug inhalieren können. Mache ich vielleicht gleich nochmal. Es war perfekt für mich: Surreal und magisch, wahr und klar. Mein Buch des Jahres (der Jahre!).

Ulrike Sterblich – Drifter
Shortlist Deutscher Buchpreis 2023
Rowohlt Verlag

Mai-Liste 2025

Collage aus dem Mai: Computermuseum, Warschau, ein voller Desktop am Laptop

  • Ich habe mich akribisch auf meinen Friseurbesuch vorbereitet, den Namen des Haarschnitts herausgesucht, und mehrere Begleitfotos zur Illustration auf mein Handy geladen. Auf dem Friseurstuhl platziert bitte ich die Friseurin, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, um besagten Haarschnitt, und zeige ihr die Fotos. Sie schaut mich ungläubig an. »Na, die Seiten willste kurz, richtig? Weißte wie man das hier bei uns nennt?! Kanakenhaarschnitt! Das wolln die nämlich alle!«
  • Freunde nur alle paar Wochen zu treffen und dennoch zu 100% in sync zu sein; es gibt nichts wertvolleres und schöneres als das.
  • In der Zeitung lese ich einen Text über einen Lehrer, der sich an seiner Schule gegen Rechtsextremismus stark macht, folglich von der AfD bedroht und schließlich von seiner Schulleitung zurückgepfiffen wird. Dass er an seiner Schule nicht mehr wisse, ob seine Haltung gegen Demokratiefeindlichkeit geschützt sei, sagt er.
  • Vier Frauen in der Straßenbahn tauschen Haartipps aus. »If I do it like that, I look like George Washington.« »I look like Chaka Khan!» »And like this [ruffles hair], I get mistaken for Shah Rukh Khan!«.
  • Im Radio spielen sie einen alten Song von Nelly Furtado. Daraufhin höre ich zwei Tage lang ununterbrochen I’m like a bird und Powerless. Dann, ein paar Tage später, läuft in der Kneipe Fred von Jupiter. Ich bin frei (like a bird), und im nächsten Ohrwurm gefangen.
  • Wir gucken den ESC, weniger aus musikalischem Interesse als vielmehr einfach um des Events Willen. Harmlose Dinge, in die ich mich sorglos hineinsteigern kann, sind mir die liebsten.
  • Drei Tage in Warschau. Die Stadt ist schön, merkwürdig sauber, und die ausnahmslos gut gekleideten Menschen hier lieben besonders: 1) Starbucks, 2) Softeis, 3) Parfümerien. Und natürlich Piroggen, ganz zurecht!
  • Ich schlendere durchs Warschauer Technikmuseum und stelle fest, dass offenbar jedes technische Gerät irgendwo einen polnischen Ursprung hat. So wurde etwa die Armbanduhr von einem Polen (Antoni Patek) erfunden, und natürlich das Telefon höchstpersönlich (Henryk Magnuski hat immerhin das Walkie-Talkie erfunden). Ich lese später, dass es »typisch polnisch ist, in großen Errungenschaften das eigene Land entdecken zu wollen«.
  • Merkwürdig, dass auch bei Partys, auf denen nur Freaks sind, am Ende die gleichen Gruppen wie auf dem Schulhof entstehen: die Coolen, die Fiesen, die Kiffer, und die Looser.
  • Ich will immer tausend Dinge tun und mache daraufhin dann aus einer Schockstarre heraus gar nichts. Dafür gibt es doch bestimmt einen psychologischen Fachbegriff?!
  • Viel mehr war nicht im Mai. Warten auf den Sommer, bei konstanten 16 Grad Celsius.

Dingtausch

Habe die neue Regel, dass für jedes Ding, das ich mit in meine Wohnung bringe, ein bereits vorhandenes Ding ähnlicher Größe weichen muss. Ausgenommen nur Lebensmittel. War eben in der Drogerie; die alte Cremetube wird durch eine neue ersetzt, geschenkt. Der Paketbote hat vorhin die Diskokugel gebracht, die ich bestellt hatte. Ich entscheide mich, sie gegen die Berge an Altglas einzutauschen, die sich in meiner Wohnung angesammelt haben, und halte das für einen guten Deal. Seit jeher bin ich Profi darin, mich selbst zu bescheißen.

Love is for the ones who love the work

Now I let it fall back in the grasses.
I hear you. I know this life is hard now.
I know your days are precious on this earth.
But what are you trying to be free of?
The living? The miraculous task of it?
Love is for the ones who love the work.

— Joseph Fasano, For a student who used AI to write a paper

April-Liste 2025

Collage vom April: München, ein riesiger Eierschneider, ein Spiegelei, ein Foto von der Terrasse, ein Aufzug-Selfie

  • Der erste richtige Frühlingsabend. Unten im Hof schlägt ein Kind unermüdlich zwei Metallschaufeln aufeinander. Auf das Dach des Altbaus gegenüber sind zwei Jugendliche geklettert, vielleicht für ein romantisches Date, vielleicht als Mutprobe. Sie blicken über die Dächer, wie ich, nur haarscharf weichen wir unseren Blicken aus. Ich habe keine Ahnung, wie die Margeriten auf meinem Balkon den Winter überlebt haben, aber die Blüten sind ganz neu, manche haben sich für die Nacht schon verschlossen. Die untergehende Sonne blitzt in den Metallprofilen der Dächer. Der Himmel ist ganz eben, kein Kondensationsstreifen und keine Wolke teilt ihn. Das Jahr liegt noch weit und offen vor uns.
  • Ich treffe E. und J. zum Kaffee. Wir kennen uns bisher nur über das Internet, aber ich folge ihren Arbeiten schon länger und frage ganz neugierig, wie und wann sie ihre Comics zeichnen und Fotos publizieren und wie sie das neben der Arbeit alles schaffen. »The key to being creative is being obsessive«, und damit hat E. wohl recht.
  • Was ich mir früher nie erlaubt und in diesem April exzessiv praktiziert habe: Draußen vor der Kneipe sitzen, etwas trinken und den Leuten zusehen. P. und ich reden so vor uns hin und tauschen unfertige Gedanken aus, und danach sind sie meistens klarer. Währenddessen laufen die Leute an uns vorbei und die Sonne blitzt noch einmal auf, und das ist doch wirklich das perfekte Leben.
  • Gabriel präsentiert sein neues Buch im Werkbundarchiv. Viele Leute sind da, einige kenne ich von ihren Profilbildern aus dem Internet, einige andere irgendwie aus der Berliner Design-Bubble. Es ist eine dieser Veranstaltungen, in denen ich sitze und merke: Ah, hier bin ich ganz richtig.
  • Seit Jahren mal wieder beim Balletttraining gewesen. K. hat mich überredet, und als ich ankomme, ist es, als hätte ich eine Zeitkapsel betreten: Alles ist noch wie 2017; dieser sonnige Berliner Hinterhof, die Musik, die Vorhänge, die Übungen an der Stange und die Mitte mit ihren Drehungen, bei denen ich nicht mitkomme. Und alle sind noch da, und freuen sich, und wieso war ich so lange nicht hier?!
  • Ein letztes Mal schwimmen in der Traglufthalle, bevor sie abgebaut und das Freibad im Mai eröffnet wird. Ich bin wehmütig und ziehe ein paar Bahnen mehr. Danach bin ich glücklich und erschöpft. Dieses Schwimmbad hat mich gut über den Winter gebracht: Für Berliner Verhältnisse ist es hier immer entspannt, mittags auch recht leer; es gibt genug Bahnen für alle und die Leute sind freundlich. Ich freue mich nur mittelmäßig auf die Freibad-Saison; Freibäder verbinde ich mit zu coolen Teenagern und Sonnenbrand. Aber vielleicht habe ich das ganz falsch abgespeichert. Im Mai geht es los.
  • I saw the future
    It was bright and beautiful
    None of us were there.