August-Liste 2024

Collage: Fotos außen august.

  • Ich bin ohne Laptop verreist und musste mir für die obige Collage die App Canva herunterladen – es war unangenehm! Ich gehöre zu den Millennials, die zwar viel, aber ungern das Handy nutzen: Ich kann dort keine großen Einkäufe oder etwa Hotelbuchungen tätigen. Dafür brauche ich immer einen großen Bildschirm — und fühle mich wie im Körper meines Opas, der seine Maus generell nur mit zwei Händen bediente.
  • E. sagt: »Ich weiß nicht allzu viel über dich, aber von dem was ich sehe, scheinst du ein wirklich gutes Leben zu haben.« Und wie recht sie hat.
  • Olympia: Wir gucken Synchronspringen und lieben es! Natürlich wegen der Männer, aber auch einfach weil es Spaß macht, so ästhetisch und so und harmlos ist. Meine liebste olympische Disziplin ist aber: das Pauschenpferd! Oder auf englisch: Pommel Horse. Da ist der Spaß doch garantiert.
  • Ich verbringe ein paar Tage in Wien, und die Stadt schwitzt.
  • Wir haben angefangen nochmal LOST zu schauen. Ich sehe einen Vortrag von J.J. Abrahms über seine Mystery-Obsession. Er erzählt von seiner Mystery Box, die er mal gekauft und nie geöffnet habe. Vom LOST-Finale enttäuschte Leute kommentieren unter dem Vortrag: »The difference between a hack and a good writer is that the good writer actually knows what’s in that mystery box«. Ich vermute, damit haben sie recht. Und gleichzeitig ist Unwissen und Ungewissheit ja auch ein kreativer Motor. Mal sehen, wie lange wir dran bleiben.
  • Durch die Stadt rennt ein Clown. In schwarzen Klamotten, mit großen roten Locken und einem markant geschminkten Gesicht. Er sieht aus wie einem Horrorfilm entsprungen, und ich wechsle schnell die Straßenseite.
  • Sommerlektüre: Hier und da halte ich meine Nase in die Spiegel-Bestsellerliste – wobei ich eigentlich weiß, dass das selten eine gute Idee ist. 22 Bahnen, nun ja, war ein Pageturner mit einer etwas platten Male Savior Storyline, und über 25 letzte Sommer habe ich mich so aufgeregt, dass ich das dem Buch fast schon positiv anrechnen muss. Es war wirklich ein literarischer Graus.
  • Aus dem Flugzeug heraus habe ich versucht, eins dieser romantisch-verklärten Reise-Instagram-Fotos zu machen. Aber die Scheibe des Flugzeugs war schmutzig, und ich habe mich während des Fotografierens so geschämt, dass das Bild verschwommen ist. Und am Ende reisen wir eben nicht für Instagram, sondern sitzen in einem klapprigen Flugzeug, trinken Wasser aus Plastikbechern, und es gibt sowieso kein WLAN hier oben. Ist auch besser so.
  • Ich brauche ein neues Bett, und bin vom Matratzenkauf überfordert. Am Ende kauft man sowieso auf gut Glück. Aber als Frage an meiner Leserschaft: 160 oder 180cm? Ist es legitim, in seinen Dreißigern noch in einem Bett zu schlafen, das weniger breit als man selbst lang ist?
  • Genereller August-Zustand: Monat voll, Tagebuch leer.

Wien schwitzt

Verbogener Poller auf Asphalt

U1 nach Leopoldau. Im Zug steht ein junger Mann in einem blassblauen Hemd. Die Arme nach oben gestreckt hält er sich an der Stange fest. Seine Achseln liegen frei, ein Anblick, den man in der stickigen Luft bitte nicht sehen möchte.

Blumenauergasse. Es gibt viele Erotik-Tanzlokale, alle etwas in die Jahre gekommen. An der Tür hängt ein blechernes Schild, »Mädchen gesucht«.

Im Augarten gibt es mehrere kompakte, durch Hecken abgetrennte Rasenflächen, die nur durch eine kleine Öffnung zugänglich sind. Aber sie sind öffentlich, dahinter feiern Familien und Freunde Geburtstage und machen Musik. Am Parkeingang steht groß und in goldenen Lettern: »Allen Menschen gewidmeter Erlustigungs–Ort von ihrem Schätzer«, vom Volkskaiser Joseph II.

Farbenfrohes Hundertwasserhaus in Wien mit bunten Fassaden und Bäumen auf den Dächern

Nach Jahren besuche ich mal wieder das Hundertwasserhaus und das Kunsthaus Wien. Ich erinnere mich an die unebenen Böden, die ihm so wichtig waren, und stelle fest, dass der Ort und die Architektur nichts von ihrer Skurrilität und Magie verloren haben.

Die Stadt ist voll mit jungen Gästen, die für die drei Taylor-Swift-Konzerte angereist sind. Alle Konzerte wurden wegen eines geplanten Terroranschlags abgesagt, nun müssen sie sich andere Beschäftigungen suchen. Nicht so schwer hier. Im Kunsthaus bekommen sie freien Eintritt, und zum Café ein Glas Prosecco gratis. Aus den Lautsprechern spielen sie Taylors Songs in Dauerschleife. Die junge Amerikanerin neben mir singt lauthals mit und schaut ihren Freund verliebt an (er lächelt tapfer). Ich freue mich für sie, aber nach dem fünften inbrünstigen Karaokebeitrag muss ich mich umsetzen.

Gasthaus Hansy. Am Nebentisch sitzt eine amerikanische Familie. Sie fragen sich, aus welchen Tier wohl Wiener Schnitzel gemacht wird. Als die Tochter realisiert, dass es Kalbfleisch ist, veal, aus dem Kind einer Kuh, bestellt sie es nicht. Diese Erkenntnis hat wohl viele noch nicht erreicht.

Der Wiener Prater vom Hotelzimmer aus bei Nacht: Bunt leuchtende Fahrgeschäfte

Vom meinem Hotelzimmer aus sehe ich den Wurstelprater. Durch die große Fensterscheibe flackern Praterturm, Space Shot und das Wiener Riesenrad. Wenn man das Fenster öffnet, hört man bis in die Nacht das euphorische Kreischen der Fahrgäste. Hier im Hotel habe ich genau die Distanz, die ich zu solchen Orten schätze.

Im Joseph Brot wird man am Platz bedient, was ich ungewöhnlich finde für eine so hippe Lokalität. Die Belegschaft trägt eine Uniform, ganz unscheinbar: ein cremefarbenes T-Shirt mit kurzen Jeans.

Am Schwedenplatz hält ein schlaffer, junger Mann eine frische Zigarette in der Hand. Er dreht sich zu dem jungen Mädchen um, das an ihm vorbei läuft, und spricht sie an: »Hey, hast du vielleicht … Snap?« Ich versinke im Erdboden vor Scham.

Der Boden hier hat keine Risse. Keine Spalten, keine Fugen. Die Stadt ist eine glatte Betonfläche. Die Hitze steht zwischen den Häusern und läuft uns an Stirn und Nacken herunter. Bei 35 Grad flüchte ich aus der Stadt.

Juli-Liste 2024

Fotos vom Juli: Drucken mit Erik Spiekermann, Harry, Zeichnungen, Spreewald

  • Ich betrete den Zauberkönig, weil ich mir ein paar Bärte kaufen möchte. Der Laden ist ein Berliner Traditionsgeschäft, seit 1884 gibt es ihn. Der junge Verkäufer handelt gerade mit seinem Kollegen aus, wer die Schicht morgen übernimmt. Er wirft eine Münze, die – Überraschung! – zu seinen Gunsten entscheidet. Auf solche Verhandlungsmethoden würde ich mich nicht einlassen mit einem Zauberer.
  • Wenn ich am Spiegel in meiner Wohnung vorbei gehe und kurz einen Blick hinein werfe, dann denke ich ganz flüchtig: Bin das ich, als erwachsener Mann? Is this it? Und dann gehe ich schnell weiter.
  • Jemand im Zug trägt eine Cap mit der Aufschrift Love in the Nineties. Ich stelle mir das vor, wie das gewesen sein muss, in den Neunzigern verliebt gewesen zu sein, oder sich neu zu verlieben. Ohne Internet, ohne Kurznachrichten, Erlebnisse ohne Digitalfotografie. Different times.
  • Ich bin überzeugt, dass der Hund einen rosafarbenen Rattenköder gefressen hat, und trete eine Paniklawine mit Anruf beim Hundenotarzt los. Bei genauerer Inspektion stellt sich natürlich heraus, dass es lediglich ein großes Stück Salami war.
  • Ich besuche einen Breath-Work-Kurs in einem Yoga-Studio, weil ich mir einbilde, dass 60 Minuten Atmen sicher sinnvoll ist für meinen Geisteszustand. Die Atemtechnik und die Musik sind treibend und anstrengend, und ein Raum, in dem ca. 50 Leute wie Sardinen auf Matten liegen und laut atmen, stellt sich leider als das absolute Gegenteil von Entspannung heraus.
  • Mit meinen Kolleg·innen von Village One waren wir – endlich! – bei einem Riso- und Letterpress-Workshop in Erik Spiekermanns Hacking Gutenberg Werkstatt. Ich dachte immer, dieser Druckmaschinenkram wäre nichts für mich, aber es war richtig toll! Wer die Möglichkeit hat, einen Workshop dort zu besuchen, sollte das wirklich unbedingt tun.
  • Sonja bemerkt, awkward sei wohl eins meiner Lieblingswörter. Ich streiche es nun aus meinem Wortschatz, und nehme mir vor, meine Awkwardness hinter mir zu lassen.
  • Ich laufe den Ku’damm entlang, ein Mann scheint auf mich zuzukommen. In Windeseile schlüpfe ich in meinen Human-Contact-Anzug: Lächeln, Augen auf, offener Blick. Aber ich bin unsichtbar.
  • »Es kann nicht still genug sein.«
  • Der Teenager, der im Spreewald-Imbiss die Plinsen ausgibt: Groß und breit, mit knallroten Wangen, in Klamotten gewickelt, die ihm dreimal zu groß und zu alt sind. Er sieht traurig aus, als hätte er schon verloren.
  • Unsere sonnige Bootstour wird durch einen Regenschauer unterbrochen. Es prasselte nur so nieder auf uns. Auch irgendwie erleichternd, so aufzugeben: Wir werden jetzt eben einfach komplett nass. Auch nicht so schlimm.
  • Vermutung: Meine zunehmend verspürte Langsamkeit liegt nicht an der Sommerhitze, und auch nicht am Alter. Sie liegt an der schnellen Welt und den schnellen Werkzeugen, die uns vorantreiben.

Invisible

Today is a day I’d like to embrace everything. The books, the walks, the look at my phone. A man seems to approach me, I quickly get dressed up in my human-contact-suit. Smile, open eyes, wide gaze. But he saw right through me, maybe he was somewhere else. I am invisible.

Writing prompt from our Writing = Design workshop: 10 minutes of automatic writing; read through it and find a theme, write a short paragraph only with words from the automatic writing.

Müde, multidimensional

während all das also 257 passiert, beim liegen, im sitzen, zum einkaufen, trotz wandern, während knutschen, statt genießen, beim arbeiten, während sex, zeitgleich zu unterhaltungen, auf reisen, beim vermissen – schreibe ich quatsch wie diesen hier auf ohne dass er „helfen“ würde, aber wobei auch, und haben sie’s schon mit meditieren versucht?, progressive muskelentspannung?, haben wir noch peps?, nein, gar keins mehr?, guten tag, ich würde gern mit ihnen über gottimhimmelichdrehdurch sprechen: hockey puck, rattlesnake, monkey, monkey, underpants.

Also, zu erst mal liebe ich einfach dass Frank alias argh immer noch bloggt, nach all den tausend Jahren, und dann kommt hier dieser Text, der eine Tour de force ist, vermutlich weil kaum Punkte und maximal Kommata und tausend Kopfstimmen vorkommen, und das ist ziemlich genau wie ich mich manchmal fühle.

Juni-Liste 2024

Collage aus dem Juni: Postits, Zeichnung eines Fußes, Sizzling Brownie, Selfie

  • Ich eröffne P., dass ich nicht plane, viel älter als 80 Jahre alt zu werden. Je nach Zustand meiner geistigen und körperlichen Gesundheit natürlich. »Na, da hast du ja noch knapp 50 Jahre vor dir.« 50 Jahre?! Uff.
  • Weitestgehend und so alles-in-allem bin ich zufrieden mit mir. Nur eine Sache, die passt mir wirklich nicht: mein aktueller Geisteszustand. Die Tatsache, dass ich mich so schlecht konzentrieren kann und alles immer vergesse und Dinge scheinbar nicht gebacken kriege, stört mich wirklich extrem. Und dann habe ich auch noch erfahren, dass Gehirnjogging ein Mythos ist und nix bringt!
  • Im Zug belausche ich unfreiwillig ein Gespräch. Ein Mann fragt seine Begleitung, die offenbar gerade eine wegweisende Entscheidung getroffen hat: »Ist der Schritt für dich mutig, oder wagemutig?« Ich finde die Frage albern; da wollte wieder jemand schlauer klingen als er eigentlich ist.
  • Die neue Kaffeekanne von Alessi heißt Menhir. Erhaben steht sie auf dem Kochfeld, eben wie ein Steinblock. Das Wort Hinkelstein wiederum klingt sofort nach Asterix und Obelix. Während ich den Wikipedia-Eintrag zu Menhiren lese, werde ich überraschend stark in den Bann gezogen. Ich erinnere mich an R., die ein überbordendes Interesse an Dolmen hatte. Damals fand ich das kurios, plötzlich verstehe ich es!
  • In dieser Stadt, die knapp vier Millionen Menschen schwer ist, in der Bahn zufällig in eine schöne Bekanntschaft laufen, das ist doch wirklich was wert.
  • Mehrmals schrecke ich nachts schweißgebadet hoch, um an diese und jede eine Sache morgen früh dringend noch zu denken, oder aus dem Weg zu räumen, oder unbedingt zu klären. Das Postfach hat also gewonnen – aber damit ist jetzt Schluss. Ich richte einen Autoresponder ein, und im Juli wird dann alles anders.
  • Einen ganzen Samstag lang im Park liegen und die Zeitung lesen, und damit die Sorge, überhaupt nicht mehr klar zu kommen, kurz in der Stadt zurücklassen.
  • Auf einer Feier spreche ich mit einer Frau über Sinnlichkeit. Sie mustert mein Outfit: Eine Leinenhose, ein Unterhemd und ein glattes Hemd aus Viskose. Sie findet es sinnlich, die Kombination von Struktur und Glätte, und meine Pose dazu. Man merke mir an, dass ich ein Ästhet sei. Und dabei belasse ich es gerne, und ziehe mir das Kompliment als passenden Juni-Abschluss über.

Diese Liste erscheint auch als Newsletter unter dem Titel Fakten und Mirakel. Hier könnt ihr ihn abonnieren.

Was, wenn die an die Macht kommen?

Seit einigen Jahren spukt durch meinen queeren Freundeskreis die Frage: »Wohin geht ihr, wenn die an die Macht kommen?« Man fragt es sich abends beim gemeinsamen Essen oder draußen im Park beim Picknick unter Regenbogenfahnen. »In welchem Land können wir dann sicher leben?« Ich habe mich immer ein wenig gegen diese Frage und Überlegung gesträubt. Vielleicht fand ich sie übertrieben, vielleicht zu unbequem. Aber ab und an merke ich, wie sie sich auch in meinem Kopf eingenistet hat, und vor sich hin geistert. Wir schleichen um sie herum, so wie das blaue Gespenst um uns.

Aber rumsitzen und ihm zusehen ist ja auch keine Option. Ich fand den Vortrag von Arne Semsrott auf der diesjährigen re:publica sehr gut: »Machtübernahme: Was tun, wenn die AfD an die Regierung kommt?« (YouTube). Arne hat dieses Jahr ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht (»Machtübernahme«), und sein Talk ist eine gute Einleitung (oder Kurzfassung? Ich habe das Buch zugegebenermaßen nicht gelesen) ins Thema.

Was tun, wenn die Brandmauer brennt und die AfD in Ministerien einzieht? Was lang unmöglich schien, kann in diesem Jahr passieren: Bei EU-, Landtags- und Kommunalwahlen hat die AfD teils gute Chancen, zur stärksten Kraft zu werden. Lasst uns darüber sprechen, was wir tun können, wenn es zu spät ist.

Er skizziert im Vortrag ganz gut den schleichenden Prozess, mit dem die AfD teilweise heute schon demokratische Prozesse aushöhlt. Er benennt das immer fortlaufende »Ist schlimm, aber doch nicht ganz so schlimm wie befürchtet« Gefühl, das mit jedem Wahlerfolg der Partei neu aufkommt (vgl. der Frosch, der im immer heißer werdenden Wasser sitzt), und macht klar, wie die AfD Schritt für Schritt in Entscheidungspositionen kommen kann und so unsere Rechte und Freiheiten eindämmen könnte.

Außerdem nennt Arne fünf Handlungsmöglichkeiten, die wir jetzt schon angehen und beachten können:

Offene Räume schaffen, die Sicherheit und Platz für konstruktive Debatten schaffen (Publix, das neue Haus für Journalismus, mit dem ich zusammenarbeite, wird bspw. so ein Ort. Digitale Räume wie die Wikipedia gehört da auch dazu!)

Für mehr Demokratie kämpfen. As in: Nicht nur den Status Quo verteidigen, sondern mehr einfordern, und eigene Visionen anbieten und vorantreiben.

Datenschutz. Ja, nervig, aber wichtig: Je weniger Daten und Infos antidemokratische Parteien wie die AfD bekommen können, desto weniger handlungsfähig sind sie.

Spenden. Demokratische Arbeit kostet Geld, und wenn die AfD mehr Macht bekommt, bekommen Demokratieinitiativen noch weniger oder gar keine Gelder mehr.

Prepping for Future. Soll heißen: Sich mental auf den Ernstfall vorbereiten. Wen rufe ich an, wenn das nächste Wahlergebnis Angst macht? Wie kann ich mich solidarisch zeigen? Wie können wir verbunden bleiben? Dazu gehört Zugewandtheit und Wachsamkeit, und das ist nicht viel aufwändiger als »mal wieder anzurufen«. Oder eben solchen Sorgen wie der ganz oben beschriebenen nicht direkt aus dem Weg zu gehen.

Der ganze Vortrag (28 Minuten) ist kostenfrei auf YouTube verfügbar.