- In der Bahn unterhalten sich zwei Freundinnen: »Ich sah den Anrufer, der mich da drangsalierte, aber ich wusste nicht mehr, wer es war! Ich hab diese Person damals wohl als THE DEVIL eingespeichert.«
- Es ist endlich ein warmer Tag, und ich laufe mit meinen Shorts und Turnschuhen durch Moabit. N. sagt, ich sehe gut aus »in meiner kleinen Hose«. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich lustig über mich macht, und hadere mit der Frage, ob ich in meinem Alter noch kurze Hosen in der Öffentlichkeit tragen kann. Ja, beschließe ich. My body my choice.
- H. fragt, was wir in ein paar Jahren machen, wenn es wegen der ganzen KI-Systeme keine Websites mehr gibt und alle nur noch mit Maschinen chatten wollen. Ich winke ab, um nicht wieder in vollkommenen Missmut zu verfallen. Bücher gibt es ja auch noch, obwohl niemand mehr lesen will (oder kann).
- Einer dieser Sommerabende, an denen man abends draußen steht und in den Himmel guckt, »Ich legte meinen Kopf zwischen die Sterne und fiel in die Nacht“, singt PeterLicht.
- Wir treffen uns spontan in einem Restaurant, und neben uns sitzen zwei Freundinnen, beide wohl so Ende 50. Sie haben Spaß und gackern und gönnen sich diverse Drinks, und bei der Verabschiedung fallen sie sich herzlich in die Arme und glucksen. K. und ich schauen uns an und wissen, das sind wir in 20 Jahren, und immerhin das sind doch gute Aussichten.
- Ein befreundeter Lehrer erzählt, dass er neulich noch spontan zu einer Krisensitzung in seiner Schule musste. Ein Schüler habe einen Mitschüler verletzt, mit einem Wurfstern.
- Bin mit P. bei Kaufland flanieren (Milchschnitte war im Angebot). Das Warten an der Kasse dauert, P. zieht sich einen leeren Karton auf den Kopf und schaut sich um. Das ist so ein Moment, den dann jemand aus der Ferne fotografiert und auf Reddit hochlädt und dazu schreibt »only in Berlin«. Von innen heraus nimmt man sowas ja gar nicht mehr wahr.
- An mir watschelt eine Frau vorbei, mit einer Fluppe in der einen und einem kleinen Hund in der anderen Hand. Sie trägt ein riesiges T-Shirt mit der Aufschrift NO BAD DAYS. Das Motto für den Sommer.
Eine Begegnung wie im letzten Jahrtausend
SMS von R. »Ich war übrigens am Freitag seit etwa 1000 Jahren mal wieder in einem Club! Es war ganz toll! Ich geriet in so eine recht große Clique an lauter netten Leuten und habe sehr viel und ausgiebig getanzt, das hat gut getan. Jedenfalls war es so eine Art Kostümparty, könnte man sagen, mehr oder weniger. Und dann habe ich Fabian kennengelernt, und als ich irgendwann aufbrechen wollte, wollten wir in Kontakt bleiben. Und weil wir wegen der Kostüme beide unsere Handys an der Garderobe abgegeben hatten, hat er an der Bar nach einem Zettel und Stift gefragt, und mir seine Nummer aufgeschrieben?! Auf Papier. Wie im letzten Jahrtausend! Jetzt liegt hier dieser Zettel mit der Nummer, und immer wenn ich ihn angucke, fühle ich mich ganz jung.«
Drifter
Nochmal kurz wegen Drifter … Ich hab jetzt ein paar Kapitel ein zweites Mal gelesen, vor allem auch die paar Stellen, die ich mit einem Eselsohr markiert hatte. Zum Beispiel hier, als Wenzel seinen FreeCell-Streak gebrochen hat und nun nie wieder einen 100% Erfolgsscore in diesem Kartenspiel haben wird. Da sagt Killer zu ihm dann am Telefon:
99,9 ist mehr als 100. Die Hundert ist ein geschlossener Raum, die 99 hat eine Öffnung. Du bist jetzt raus aus dem Escape Room.
Und dann weiter:
Egal wie nahe man der Perfektion ist, man sieht immer nur die Differenz, das, was fehlt. […] Man könnte sogar sagen, die Suche nach der Perfektion ist überhaupt der Fehler. Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.
Es gibt so ein paar Stellen im Buch, die sind, als wären man ein Teil dieser Freundschaft. Das hat es womöglich so magisch gemacht. Und natürlich die subtile magische Komponente, die sich durch das Buch zieht; die Namen der Charaktere (Ludovica Malabene?!); die Art, wie Wenzel erzählt. Das alles hat dazu geführt, dass ich dieses Buch so langsam wie möglich gelesen habe, weil ich so lange wie möglich etwas davon haben wollte. Ich hätte es aber auch einfach direkt in einem Zug inhalieren können. Mache ich vielleicht gleich nochmal. Es war perfekt für mich: Surreal und magisch, wahr und klar. Mein Buch des Jahres (der Jahre!).
Ulrike Sterblich – Drifter
Shortlist Deutscher Buchpreis 2023
Rowohlt Verlag
Mai-Liste 2025
- Ich habe mich akribisch auf meinen Friseurbesuch vorbereitet, den Namen des Haarschnitts herausgesucht, und mehrere Begleitfotos zur Illustration auf mein Handy geladen. Auf dem Friseurstuhl platziert bitte ich die Friseurin, eine junge Frau mit türkischen Wurzeln, um besagten Haarschnitt, und zeige ihr die Fotos. Sie schaut mich ungläubig an. »Na, die Seiten willste kurz, richtig? Weißte wie man das hier bei uns nennt?! Kanakenhaarschnitt! Das wolln die nämlich alle!«
- Freunde nur alle paar Wochen zu treffen und dennoch zu 100% in sync zu sein; es gibt nichts wertvolleres und schöneres als das.
- In der Zeitung lese ich einen Text über einen Lehrer, der sich an seiner Schule gegen Rechtsextremismus stark macht, folglich von der AfD bedroht und schließlich von seiner Schulleitung zurückgepfiffen wird. Dass er an seiner Schule nicht mehr wisse, ob seine Haltung gegen Demokratiefeindlichkeit geschützt sei, sagt er.
- Vier Frauen in der Straßenbahn tauschen Haartipps aus. »If I do it like that, I look like George Washington.« »I look like Chaka Khan!» »And like this [ruffles hair], I get mistaken for Shah Rukh Khan!«.
- Im Radio spielen sie einen alten Song von Nelly Furtado. Daraufhin höre ich zwei Tage lang ununterbrochen I’m like a bird und Powerless. Dann, ein paar Tage später, läuft in der Kneipe Fred von Jupiter. Ich bin frei (like a bird), und im nächsten Ohrwurm gefangen.
- Wir gucken den ESC, weniger aus musikalischem Interesse als vielmehr einfach um des Events Willen. Harmlose Dinge, in die ich mich sorglos hineinsteigern kann, sind mir die liebsten.
- Drei Tage in Warschau. Die Stadt ist schön, merkwürdig sauber, und die ausnahmslos gut gekleideten Menschen hier lieben besonders: 1) Starbucks, 2) Softeis, 3) Parfümerien. Und natürlich Piroggen, ganz zurecht!
- Ich schlendere durchs Warschauer Technikmuseum und stelle fest, dass offenbar jedes technische Gerät irgendwo einen polnischen Ursprung hat. So wurde etwa die Armbanduhr von einem Polen (Antoni Patek) erfunden, und natürlich das Telefon höchstpersönlich (Henryk Magnuski hat immerhin das Walkie-Talkie erfunden). Ich lese später, dass es »typisch polnisch ist, in großen Errungenschaften das eigene Land entdecken zu wollen«.
- Merkwürdig, dass auch bei Partys, auf denen nur Freaks sind, am Ende die gleichen Gruppen wie auf dem Schulhof entstehen: die Coolen, die Fiesen, die Kiffer, und die Looser.
- Ich will immer tausend Dinge tun und mache daraufhin dann aus einer Schockstarre heraus gar nichts. Dafür gibt es doch bestimmt einen psychologischen Fachbegriff?!
- Viel mehr war nicht im Mai. Warten auf den Sommer, bei konstanten 16 Grad Celsius.
Dingtausch
Habe die neue Regel, dass für jedes Ding, das ich mit in meine Wohnung bringe, ein bereits vorhandenes Ding ähnlicher Größe weichen muss. Ausgenommen nur Lebensmittel. War eben in der Drogerie; die alte Cremetube wird durch eine neue ersetzt, geschenkt. Der Paketbote hat vorhin die Diskokugel gebracht, die ich bestellt hatte. Ich entscheide mich, sie gegen die Berge an Altglas einzutauschen, die sich in meiner Wohnung angesammelt haben, und halte das für einen guten Deal. Seit jeher bin ich Profi darin, mich selbst zu bescheißen.
Love is for the ones who love the work
Now I let it fall back in the grasses.
I hear you. I know this life is hard now.
I know your days are precious on this earth.
But what are you trying to be free of?
The living? The miraculous task of it?
Love is for the ones who love the work.
— Joseph Fasano, For a student who used AI to write a paper