Oktober-Liste 2023

Collage für Oktober 2023

  • Ich nutze die Herbstsonne und mache einen Spaziergang zur Bibliothek. Die Straßen sind ruhig, jemand sonnt sich auf den Bänken, eine Mutter sammelt mit ihrem Sohn Kastanien. Kurz vor dem Rückgabeautomat der Bibliothek fällt neben mir ein kleiner Spatz vom Himmel. Er ist sofort tot.
  • Der Ticket-Kontrolleur an der Fähre schaut uns prüfend an. Ob wir zusammen seien, fragt er auf italienisch. Er schmunzelt und genießt seine Macht wie ein Türsteher. Warum müssen wir uns das fragen lassen? Einem heterosexuellen Paar wäre das in keiner Konstellation passiert.
  • Ein letztes Mal im Meer baden. Es fühlt sich schön an. So weich und ruhig. Ich bin fast ganz alleine im Wasser. Es ist abwechselt warm und kalt und ich will nicht, dass der Moment aufhört.
  • Ich lese darüber, wie man Balkonpflanzen am besten überwintert. Man wickelt sie in Polsterfolie und Jute ein, und stellt sie ins Treppenhaus. Solche Probleme hatte ich vorher nie; ich mache sie mir am letzten warmen Herbsttag zu eigen, und genieße sie.
  • Jan ist in der Stadt, ich bin zum Abendbrot eingeladen. Nach dem Essen spiele ich mit seinem Sohn, wir hören Tabaluga und Sesamstraße auf der Toniebox und ich kaufe in seinem Einkaufsladen ein. Gegen 21 Uhr muss er ins Bett; er will nicht. Ich denke: Was würde ich dafür geben – um 21 Uhr ins Bett gebracht und zugedeckt werden, und den Tag und den Trubel beendet bekommen.
  • Manchmal blättere ich abends im Blog, stolpere über alte Texte und Links. Seit zwei Jahren habe ich nichts wirklich substanzielles mehr produziert, zumindest fühlt es sich so an.
  • Ich lese in einem Roman über die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, und stelle fest, dass ich meine Eltern nie so richtig nach ihrem Leben gefragt habe. Das macht man irgendwie nicht, in der Kinderrolle. Nehme mir vor, das nachzuholen.
  • Manchmal fühlt es sich hier ein bisschen einsam an. Also nie schlimm, aber so im großen Ganzen. Ich glaube, es liegt an der Stadt. Daran, dass hier alle immer so weit weg sind, und so sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich ja auch.
  • Ansonsten im Oktober: Zwei Erkältungen ausgeschnäuzt, 5000 Liter Ingwertee getrunken, eine Teamwoche gehabt, einen riesigen Schokokuchen gebacken, ein winzig kleines Baby im Arm gehalten.

Twister

Ich und Nadine beim Twister spielen

2022. Nadine und ich spielen Twister.

September-Liste 2023

Collage mit Fotos aus dem September 2023

  • Am Nordbahnhof tritt ein junger Mann auf die Straße und übergibt sich mehrfach und leidvoll. Ich warte eine Weile und frage ihn, ob er etwas brauche. Er bittet um ein Taschentuch, ich gebe ihm eine Packung. Diese von Ekel erfüllte Distanz zwischen uns bei der Übergabe war eigentlich gar keine Absicht; ich glaube, sie ging unterbewusst von uns beiden aus.
  • Mehrere spätsommerliche Abende verbringe ich am Laptop, mit kleinen Nebenprojekten wie der Neuauflage vom Besten Witz, oder dem Lernen eines Website-Frameworks. Ich genieße die Stille und den Fokus, in den mich die Arbeit zieht.
  • »Im not messy, I’m busy!«, sagt Frances Ha, als sie ihr unordentliches Zimmer vor ihrem Gast rechtfertigt. Nach Jahren schaue ich den Film von Greta Gerwig ein zweites Mal. Ich bin zu alt dafür geworden, aber einige Szenen berühren mich trotzdem noch.
  • War zum ersten Mal bouldern. Hate to say it, aber es hat wirklich Spaß gemacht. Nachdem in den ersten zehn Minuten alle meine Vorurteile bestätigt wurden (merkwürdig unscheinbares Publikum, belehrende Typen, strenger Geruch), konnte ich mich drauf einlassen, und werde es vermutlich wieder tun!
  • Ich gehe mit P. zur Lesung einer Autorin, die gerade ihren ersten Roman veröffentlicht hat. Wir reden über junge Autor·innen, die oft über Twitter oder Instagram berühmt, dann von Verlagen zu einem Bildungsroman verpflichtet werden, und so für immer dieses Label tragen.
  • Urlaub in Italien. Auf den ersten, flüchtigen Blick ist Neapel ziemlich schmutzig. Auf den zweiten auch. Aber die Pizza ist wirklich gut! In den Cafés läuft Neomelodico Napoletano; neapolitanische Balladen. Die Menschen hier können sich nicht entscheiden zwischen dem Fußballgott Maradona und Jesus, und beten deshalb beide an.
  • Pompeji. Auf einem erhaltenen Fresko reitet ein kleiner pummeliger Junge auf einer Krabbe. Absurd, dass diese über 2000 Jahre alten Wandmalereien erhalten sind. Ein Archäologe erklärt, dass die großen Löcher im Putz daher kämen, dass Menschen die Fresken gestohlen und verkauft hätten.
  • Kurz nachdem wir Neapel verlassen und auf die nächste Insel fahren, lese ich über die phlegräischen Felder. In der kommenden Nacht wird Neapel von einem Erdbeben erschüttert. Einige Zeitungen titeln, die Leute seien schreiend auf die Straße gerannt. Ich muss mich anstrengen, Ruhe zu bewahren, und komme mir dumm vor. Einerseits, hierhin zu reisen, zu der Zeit, in der Expert·innen Unruhen vermelden. Anderseits, weil ich so unentspannt bin, und mich dem Studel der Panik hingebe.
  • Ich esse ein Babà; ein in Rum eingelegtes Gebäck. Ich traue mich kaum. Alkohol ist für mich seit jeher etwas Verbotenes; es darf mir nicht schmecken. Ich brauche lange, um mir einzugestehen, dass es mir aber doch ganz gut geschmeckt hat. Immer wieder stolpere ich über Denkmuster aus meiner Kindheit und Jugend, die es zu verlernen oder neu zu lernen gilt.
  • Ich stehe auf dem Balkon der Ferienwohnung. Auf dem kleinen Insel-Ausläufer, auf dem die Festung steht, dreht sich das Licht eines Leuchtturms. Darüber hängt der Mond. Unten in der Stadt singt ein Pianobar Popsongs; ein Auto fährt den Hügel hoch. Am Horizont funkelt die Küste, und Neapel, und den Vesuv hat die Dunkelheit schon verschluckt.
  • Es ist neun Uhr morgens, ich lese am Strand im Schatten einer Pergola. Neben mir setzen sich vereinzelt immer wieder alte italienische Männer; Nonni. Sie haben dunkle, schrumpelige Haut, vom Rauchen oder von der Sonne, vermutlich von beidem; es geht ihnen gut.
  • Abends an der Strandpromenade. Ich starre eine ältere Frau mehrere Sekunden lang an, weil ich mir sicher bin, wirklich sicher!, dass sie eine dieser Spaßbrillen mit angehefteter Kunststoffnase trägt.

August-Liste 2023

Collage mit Fotos aus dem August 2023

  • An einem Samstag spaziere ich über einen Markt, einen richtigen, mit lokalem Gemüse und selbst gebackenem Brot und so. Die Verkäuferin am Käsestand sagt zu ihrer Kundin: »Also dieser hier ist wirklich extrem stinkig. Den würde ich nicht in der Wohnung haben wollen.«
  • S. sagt: »Das einzige, was ich am Älterwerden wirklich schlimm finde, ist die Tatsache, dass ich immer mehr Freude am Leben habe. Je älter ich werde, desto lieber lebe ich. Eigentlich sollte es doch andersrum sein.«
  • »I didn’t know what I was thinking, but now I know«, erzählt eine Kursteilnehmerin über ihre Erfahrung beim Automatic Writing.
  • Die Autokorrektur meines Telefons korrigiert Filterbubbles zu Folterbänke, und da ist, wenn man um zwei Ecken denkt, ja wirklich was dran.
  • Die amerikanische Künstlerin Korita Kent schreibt in ihren 10 Rules for Students, Teachers, and Life: »Rule Eight: Don’t try to create and analyze at the same time. They’re different processes.«
  • Ich verbringe ein paar schöne Tage im Harz. Wir marschieren inmitten vieler agiler Berghexen den Brocken nach oben (bzw. vor allem nach unten). Das Problem am Wandern für mich ist, dass ich mich so sehr auf die Wege und die Steine und die Umwelt konzentrieren muss, dass ich nicht ins Nachdenken komme. Also mal nicht nachdenken; eigentlich auch ganz gut.
  • Ich fühle mich als hätte ich einen geheimen Code bzgl. meiner Essensproblematik gelöst. Plötzlich klappt es. Ich kann in Gesellschaft frühstücken und danach losgehen und brauche keine langen Pausen mehr, und unterwegs habe ich eine komplette Bratwurst mit Bratkartoffeln gegessen, ohne dass mit übel wurde. Ich denke einfach daran dass ich einen großen starken Körper haben möchte, und dass ich dafür eben essen muss. Simple things! Small steps!
  • Erschöpft vom Tag liege ich nur in Unterwäsche auf dem Hotelbett. Die Luft ist warm und träge, der Himmel wolkenverhangen, ein Licht auf dem Nachtisch ist an. Durch das offene Fenster höre ich jemanden, der langsame, einsame Melodien auf dem Saxophon spielt. Ein paar Kinder spielen auf dem Rathausplatz, sonst passiert nichts.
  • Im Hotel liegt jeden Morgen ein Faltblatt mit Wetter, Spruch und Ausflugstipp auf dem Frühstückstisch. Außerdem ein Rätsel: »Ich habe fünf Finger, aber ich lebe nicht. Was bin ich?«
  • Auf dem Heimweg sprechen mich zwei junge Mädchen an. »Hast du einen Euro?« Nein, kein Kleingeld, tut mir leid. »Hast du einen Cent?“ Nein, sorry. Vermutlich war das gelogen. Dann fragen sie: »Bist du arm?!« Zugegeben, das war entwaffnend.
  • Hab viereckige Augen vom ins-Handy-gucken. Unsere Eltern hatten recht! Zum Ausgleich liege ich spätabends lange auf der Terrasse und schaue in die Sterne, und meine Augen formen sich langsam zurück.
  • Barbie was everything, Oppenheimer was just … na ja.
  • Vor A.s Café ist ein Auto abgebrannt. Es war wohl ein Kabelbrand, aber die Straße sieht aus wie nach einem Attentat. Der Baum über dem Parkplatz ist verkohlt, und die Scheibe zum Café ist wegen der Hitze geplatzt. Die Markise ist nur leicht verkohlt, es war alles ein großes Glück im Unglück.
  • »Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird«; endlich Annie Ernaux’ Buch Die Jahre fertig gelesen, großartig.

Futuro

UFO-like house; a white capsule with round windows, with small people in front of it

Futuro by Matti Suuronen
in front of Pinakothek der Moderne / Munich.

Juli-Liste 2023

Foto-Collage aus dem Juli 2023

  • Jemand im See schreit »Meine Unterhoseeeee!« Ein Junge liegt am Ufer und baut verträumt kleine Sandtürme. Sein Golden Retriever sieht ihm dabei zu. Die beiden vergessen den Lärm um sie herum.
  • Ich treffe N., sie ist sehr schwanger und wir bewegen uns gemeinsam sehr langsam durch die Straßen, und läuten damit quasi auch die Geschwindigkeit des Wochenendes ein.
  • Liegen ist alles.
  • Szechuan Nudeln; Wie man fünf Eier verpackt; Jelly Dessert. Im asiatischen Supermarkt habe ich diese runden Kekse entdeckt, die süß aussehen, aber mehr scharf als süß schmecken. Eine Erwachsenenversion des Glückskeks quasi; bittersüß und ohne den verklärten Spruch.
  • Wir probieren den Paw Patrol Filter auf TikTok, der uns in Anime-Charaktere verwandeln soll, mit dem Hund. Aber anstatt Gisi wird Andrea zum Hund. Im Internet ist noch alles möglich; on the internet nobody knows you’re a dog.
  • Christopher Street Day. Der attraktive Typ, oberkörperfrei, der vermutlich schon auf einem anderen mentalen Layer unterwegs ist, grinst mich an, lacht laut und fährt im Vorbeigehen mit dem Gesicht über meinen Rücken. Hat der gerade seine Nase an meinem Shirt abgeputzt?!
  • Sich sicher und angekommen fühlen in dem, was man hat: die Wohnung, die Beziehung, die Arbeit. Und dann zwischendurch immer wieder dran erinnert werden, dass man etwas verpasst, nicht genug lebt, zu bequem ist. »Life is short«, lese ich in einer Eventbeschreibung. Uff.
  • Die Reminder im Kalender, im Telefon, im Notizheft; sie bringen nichts, mein Hirn ist ein Sieb.
  • Montag, 31. Juli 2023. Ich: »I guess I live in my own little world.« Evey: »Well, that’s ok. It’s a quality world.«

Annie Ernaux über das Fernsehen

Ich lese gerade Annie Ernaux’ »Die Jahre«; das war gerade in der Bibliothek gerade da und ich habe noch nie vorher einen längeren Text von ihr gelesen. Im Buch beschreibt sie autobiografisch das letzte Jahrhundert in Frankreich; von der Nachkriegsgeneration durch die Pubertät bis ins Eigenheim und zu den Fluchtgedanken aus dem goldenen Käfig heraus (weiter bin ich noch nicht). Akribisch beobachtend hält sie Zeit- und Kulturphänomene und die zugehörigen Gefühle fest, und das ist es, was mich auch immer ein bisschen sticht beim Lesen: In ihrer Beobachtungsgabe finde ich mich wieder, ich kenne das alles, aber aufschreiben kann ich es nicht. Wie macht sie das?!

Jedenfalls habe ich diese Passage übers Fernsehen angestrichen, weil sie gleichzeitig allgemein und präzise ist. So ein Absatz über Computer oder das Internet; den will ich schreiben (oder er kommt noch im Buch, mal sehen).

Das Fernsehen zeichnete jeden Tag und ohne erkennbare Ordnung alles auf, was in der Welt geschah. Ein neues Gedächtnis entstand. Aus dem Magma der Bilder, die man sah, gleich wieder vergaß und ohne Worte abspeicherte, stiegen nur die besten Werbespots, die schönsten und bekanntesten Gesichter, die heftigsten und brutalsten Szenen an die Oberfläche – und schoben sich übereinander, bis man meinte, Jean Seberg und Aldo Moro hätten tot im Kofferraum ein und desselben Autos gelegen.