- Jemand im See schreit »Meine Unterhoseeeee!« Ein Junge liegt am Ufer und baut verträumt kleine Sandtürme. Sein Golden Retriever sieht ihm dabei zu. Die beiden vergessen den Lärm um sie herum.
- Ich treffe N., sie ist sehr schwanger und wir bewegen uns gemeinsam sehr langsam durch die Straßen, und läuten damit quasi auch die Geschwindigkeit des Wochenendes ein.
- Liegen ist alles.
- Szechuan Nudeln; Wie man fünf Eier verpackt; Jelly Dessert. Im asiatischen Supermarkt habe ich diese runden Kekse entdeckt, die süß aussehen, aber mehr scharf als süß schmecken. Eine Erwachsenenversion des Glückskeks quasi; bittersüß und ohne den verklärten Spruch.
- Wir probieren den Paw Patrol Filter auf TikTok, der uns in Anime-Charaktere verwandeln soll, mit dem Hund. Aber anstatt Gisi wird Andrea zum Hund. Im Internet ist noch alles möglich; on the internet nobody knows you’re a dog.
- Christopher Street Day. Der attraktive Typ, oberkörperfrei, der vermutlich schon auf einem anderen mentalen Layer unterwegs ist, grinst mich an, lacht laut und fährt im Vorbeigehen mit dem Gesicht über meinen Rücken. Hat der gerade seine Nase an meinem Shirt abgeputzt?!
- Sich sicher und angekommen fühlen in dem, was man hat: die Wohnung, die Beziehung, die Arbeit. Und dann zwischendurch immer wieder dran erinnert werden, dass man etwas verpasst, nicht genug lebt, zu bequem ist. »Life is short«, lese ich in einer Eventbeschreibung. Uff.
- Die Reminder im Kalender, im Telefon, im Notizheft; sie bringen nichts, mein Hirn ist ein Sieb.
- Montag, 31. Juli 2023. Ich: »I guess I live in my own little world.« Evey: »Well, that’s ok. It’s a quality world.«
Annie Ernaux über das Fernsehen
Ich lese gerade Annie Ernaux’ »Die Jahre«; das war gerade in der Bibliothek gerade da und ich habe noch nie vorher einen längeren Text von ihr gelesen. Im Buch beschreibt sie autobiografisch das letzte Jahrhundert in Frankreich; von der Nachkriegsgeneration durch die Pubertät bis ins Eigenheim und zu den Fluchtgedanken aus dem goldenen Käfig heraus (weiter bin ich noch nicht). Akribisch beobachtend hält sie Zeit- und Kulturphänomene und die zugehörigen Gefühle fest, und das ist es, was mich auch immer ein bisschen sticht beim Lesen: In ihrer Beobachtungsgabe finde ich mich wieder, ich kenne das alles, aber aufschreiben kann ich es nicht. Wie macht sie das?!
Jedenfalls habe ich diese Passage übers Fernsehen angestrichen, weil sie gleichzeitig allgemein und präzise ist. So ein Absatz über Computer oder das Internet; den will ich schreiben (oder er kommt noch im Buch, mal sehen).
Das Fernsehen zeichnete jeden Tag und ohne erkennbare Ordnung alles auf, was in der Welt geschah. Ein neues Gedächtnis entstand. Aus dem Magma der Bilder, die man sah, gleich wieder vergaß und ohne Worte abspeicherte, stiegen nur die besten Werbespots, die schönsten und bekanntesten Gesichter, die heftigsten und brutalsten Szenen an die Oberfläche – und schoben sich übereinander, bis man meinte, Jean Seberg und Aldo Moro hätten tot im Kofferraum ein und desselben Autos gelegen.
1 Jahr Gisela
Neon
Jeden Abend tritt der Mann gegenüber auf seinen Balkon. Er fotografiert den Sonnenuntergang. Immer dann, wenn er Himmel kurz rosa aufleuchtet und die schrägen Schatten die Dächer überziehen, kommt er kurz raus und hält er sein Telefon in die Luft.
Eigentlich hat dieser Mann überhaupt kein Gefühl für Licht und Stimmung. Jeden Abend, bis in die Nacht, ist seine Wohnung in einem grellen, kalt-weißen Neonlicht erleuchtet. Es prallt gegen die kargen Zimmerwände und gerüschten Polyestervorhänge. Aber gegen 21 oder 22 Uhr, wenn die Sommersonne im Westen untergeht, steht er auf dem Balkon und fotografiert den rosafarbenden Himmel mit seiner Handykamera. Zumindest in seiner Fotosammlung, oder in seinem WhatsApp Status, oder in seiner Vorstellung herrscht romantische Lichtstimmung.
Vielleicht reicht ihm das.
Young men
Thoughts
ought to be
reliable allies
winning over
to feelings and
melancholy
This summer
the people were fun
jovial cheering to enjoyment
Young men do a shot
record a message
“I don’t want to”
Juni-Liste 2023
- Der Körper sagt die Grenzen an. Er sagt es nicht immer sanft, aber er sagt es. Dass mich das immer noch ab und an überrascht, ist fast schon lächerlich.
- Im Juni: Sehr viel Kopfweh. Also, nicht Kopfzerbrechen, sondern einfach nur Kopfweh. Bestimmt schmerzt es den Kopf, dass der alters- und erblich bedingte Haarausfall einsetzt.
- Liegt es an der Inflation oder am Älterwerden, dass plötzlich alles um die 100 Euro kostet?!
- Nach der Apple Vision Pro Keynote nur schwer über den Gedanken hinausgekommen, dass dieses Teil weder die Welt noch mein Leben in absehbarer Zeit merklich verbessern wird. Wie mit vielen neuen Technologien und Themen fällt mir die aktive Begeisterung immer schwerer. Wer will in den papierhaften Thomas-Demand-Wohnzimmern der Apple Werbevideos leben?
- Das erste Mal in meinem Leben einen Tischler beauftragt. Kam mir sehr erwachsen vor.
- Der Juni in Aggregatzuständen: Bleiern, matschig, chaotisch. Wie mein Tagebuch. Überall fehlen Einträge, Seiten und Daten sind vertauscht, nichts ist am rechten Fleck.
- Nach der erschütternden AfD-Wahl in Sonneberg wieder kurz an der Welt verzweifelt. Social Media ausschalten hilft. Auch wenn ich weiß, dass Wegsehen die Probleme nicht auflöst: Auszuwählen, wo man hinsieht, hilft, sich zu fokussieren.
- Spät Nachts finde ich im digitalen Archiv eine Videoaufnahme von S. Sie zeigt ganz nah die großen Hände, die eine Katze streicheln. Für 5 Sekunden wieder 22.
- Ein Jahr Village One!
Vier Stunden von Elbe 1

Screenshot / ARD Mediathek
Helga Feddersen (ja, die Wanne ist voll), erzählt über ihren Anfang als Fernsehautorin, und über das Schreiben:
Morgens am Frühstückstisch, wenn ich so dachte: »Jetzt könnt’ Götz doch eigentlich so ’ne kleine Bemerkung machen, »wie lieb du ausschaust«, oder »wie lieb du bist«. Dann ließ er mich immer erzählen und sagte: »Du sprichst so anschaulich. Du könntest sicher Dialoge schreiben. Schreib doch mal ’n Fernsehspiel!« Und das fand ich so grässlich, dass ich da mit dem liebevollen Herzen nichts weiter zu hören kriege als »Schreib doch mal ’n Stück«. Und eigentlich nur um Ruhe zu haben, hab ich gesagt: »Du scheiß Intellektueller, jetzt donner ich dir ’n Stück hin, denn hab ich Ruhe!«
Und dann saß ich da vor den leeren Seiten und wusste eigentlich gar nichts. Dann hab’ ich gesagt: »Ach Götz, sag doch mal, wie fängt man das denn an?« »Ja«, sagt er, »mit Seite Eins fängt immer alles an.«
Dass sie als öffentliche Person immer die Ulknudel war, immer nur witzig und klamaukig, und hinter der Kamera doch so bedacht und sorgsam und präzise, davon erzählt die NDR Doku HELGA – Die zwei Gesichter der Feddersen. Ich hatte sie bisher tatsächlich so gar nicht auf dem Schirm; natürlich, den Song mit der Wanne, den kannte ich, aber sonst? Der Dokufilm zeigt schöne, bedachte und melancholische Perspektiven aus ihrem Leben, und hat mich sehr abgeholt. Noch bis 2024 in der ARD Mediathek.