- Zurück in Berlin: Kurz vor Sonnenuntergang stehen viele Menschen an der Straßenecke und blicken Richtung Himmel, ihre Smartphones weit nach oben gestreckt. Durch ihre Displays schauen sie in den rotblauen Abendhimmel, den Leuchtstreifen hinterher.
- Eine Frau auf der Straße spricht energisch Gebärden in ihre FaceTime-Unterhaltung, still und laut zugleich.
- Manche Leute haben diese Gabe, durch Witz und radikale Offenheit eine Entspannung zu erzeugen, die es sonst kaum gibt in meinem Leben.
- In der Bahn sitzt ein Wohnungsloser und malt mit Ölfarben ein tristes Bild: Ein graues Haus auf einer grauen Straße unter einem grauen Himmel.
- Morgens sehe ich noch den jungen Tauben auf meinem Balkon beim Strecken und Räkeln zu. Abends ist das Nest leer, am folgenden Morgen ist niemand mehr da. War es das schon? Sind sie ausgezogen? Nach wenigen Tagen Stille erwische ich sie beim Bau eines neuen Nests. So nicht!! Wer hier keine Miete zahlt, muss gehen. Eigenbedarf!
- J. erzählt beim Abendbrot von ihren Zukunftsplänen. Eine kleinere Stadt für die nächsten zehn Jahre, dann raus aufs Land. Sowas habe ich gar nicht, so eine klare Idee. Vielleicht ist mein Zukunftsplan einfach, irgendwann so eine schöne Katze wie Fenchel zu haben.
- Rabea Weihser liest aus ihrem neuen Buch über das Gesicht vor. »Wir können nur frontal in die Welt gucken, während sie uns von allen Seiten sehen kann.«
- Der März ist vorbei, ich hänge durch, die Tage sind schon seit Wochen so lang und enden verschwommen. Was machen wir jetzt?
Februar-Liste 2025
- Auf meiner Terrasse hat sich eine Taube eingenistet. Sie hat einfach meine Schuhe vom Regal geworfen, um ihr Nest zu bauen! Während ich noch recherchiere, wie man mit so einem Gast umgeht, bemerkt E. die beiden winzigen, ockergelben Taubenküken. Die bleiben da jetzt also erst mal.
- Immer wieder dieses ungute Gefühl eines bevorstehenden Unheils. Gleichzeitig bei sämtlichen schrecklichen und tatsächlich passierenden Ereignissen nur noch mit den Schultern zucken: Das ist das eigentliche Unheil.
- Ich sitze am Rechner und versuche zu arbeiten. Alle fünf Minuten kommt der Hund und klopft: Spielen! Kuscheln! Aufmerksamkeit! Wie kann man es ihr verübeln. Ich habe immer Zeit für ein ein fünfminütiges One-on-One mit Gisela.
- Das Licht blendet. Ich halte mit beiden Händen meine Augen zu, und die Dunkelheit eröffnet sich vor mir wie ein Raum, in den ich gucken kann. Ein tiefer, weiter Raum, voller kleiner Sterne. Das erste Mal, dass die Dunkelheit gut tut.
- Wir treffen K. in der Altstadt. Die Zeit löst sich auf, und noch Nachmittags ist es elf Uhr morgens. Ich hätte ewig hier sitzen und mit euch Kaffee trinken können.
- Das erste mal mit Taucherbrille im Meer getaucht (Taucherbrille mit Sehstärke sowieso: Game Changer!). Wie schön die Fische sind. Wie schön die Sonne durch die Wellen bricht. Und die Stille. Wunderschön.
Übrigens: Diese Listen gibt es als Newsletter: Fakten und Mirakel.
Oklou – choke enough
Genre-Beschreibungen haben sich für mich in den letzten Jahren verflüssigt und aufgelöst. Während es vor 20 Jahren noch einfach war, im Alternative-CD-Regal ein Shoegaze-Album am Cover zu erkennen, sind die heutigen tausendfach zersplitterten Sub-Genres und Wortschöpfungen sowohl seitens Artist, Producer, Label und digitaler Musikkataloge nur noch schwer zu navigieren. Ich brauche also andere Parameter, um neue Musik zu entdecken, wenn ich mich dabei nicht nur auf Algorithmen verlassen möchte.
Vor einiger Zeit bin ich von Spotify zurück zu iTunes bzw. Apple Music gewechselt. Die Gründe waren vielfältig: Das Spotify Interface war mir zu sperrig, die Plattform vermischte mir zu viele Medien, und der Fokus auf Vibe anstatt auf Künstler·innen ist nicht, was ich suche. Apple Music verkauft ein ebenso gurkiges und fehlerhaftes Interface, aber immerhin sitzt es bräsig auf meiner gut 20 Jahre alten Musiksammlung, die ich nach wie vor gerne höre, und gar nicht so viel neues brauche. Ich kaufe ab und an Alben von Künstler·innen auf Bandcamp, und die Möglichkeit, streamingfreie Playlists anzulegen und nostalgisch auf meinen iPod zu laden, füllt mich mit Glück.
Wie dem auch sei: Apple Music bietet die Funktion, Songinfos einzublenden, und verrät mir ohne viele Umwege, wer die Songs geschrieben, produziert und gemixt hat. Früher konnte ich mit diesen Infos wenig anfangen, aber heute habe ich immerhin ein paar Namen, die mir etwas sagen und mit denen ich etwas verbinde.
A. G. Cook ist einer davon. Bekannt vor allem als Creative Director, Produzent und langjähriger Kollaborateur von Charli xcx, hat er mit PC Music ein Musikgenre (»Hyperpop«) etabliert, das mich genau da abgeholt hat, wo ich mit Anfang 20 ausgestiegen bin: Elektronische, fast ironische Popmusik, die sich verquer (queer?) anhört und die auditiv als auch visuell und gestalterisch überpoliert ist. Seine eigenen Alben sind so flächig und detailliert, um gerade noch nicht im Hintergrund zu laufen, und dann setzen sie einem einen wochenlangen Ohrwurm ins Ohr.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Unter anderem anhand dieser PC Music Armee hangele ich mich durch Veröffentlichungen, und erkenne Namen und Künster·innen wieder. Zuletzt: die französische Musikerin Oklou. Gerade hat sie ihr Debütalbum herausbracht: choke enough.
Das Album läuft seit Veröffentlichung bei mir ununterbrochen. Auch A. G. Cook hat zwei Tracks mitproduziert (thank you for recording und ict) – man hört das, und dennoch ist das Album ganz anders und nicht direkt Hyperpop. Eine mittelmäßig positive Musikexpress-Rezension beschreibt das Genre als Bedroom-Synth-Pop, und das trifft wirklich haargenau die Musik, auf die ich aus bin.
Oklou – choke enough
Release am 7. Februar 2025 auf True Panther Sounds
Anhören/kaufen auf Bandcamp
Von außen nach innen
Was sind die großen Themen des Lebens? Was bleibt? Die Autorin Doris Dörrie antwortet auf die Frage, worauf es im Leben ankommt: genug geliebt zu haben. Und: seine Potenziale erkannt und ausgeschöpft zu haben. Das ist ein großes und schweres Ziel, finde ich. Die eigenen Potenziale zu erkennen braucht Zeit und Ressourcen, und auch Mentoren, die einem Mut zusprechen und Wege aufzeigen. Und gleichzeitig ist Mentor sein ja auch ein Potenzial, dass in einem schlummern könnte. Ich habe jedenfalls das Gefühl, meine Potenziale noch nicht so recht auszuschöpfen. Da geht noch was. Austin Kleon schreibt, dass man die Dinge nicht unbedingt in sich trägt, sondern eher in sich hinein lassen muss. Platz machen für Inspiration und Input, aber auch: Zeit schaffen dafür, dass sie wirken und eine Form annehmen können. Ein Buch schreibt sich nicht von innen heraus. Ein Bild malt sich nicht in mir drin. Es muss ja auch erst mal in mich reinkommen. Die Muse kommt im Akt der Kreation, eine Erkenntnis, die ich seit letztem Jahr sehr bewusst mit mir herum trage. Wird also Zeit, ein wenig mehr Zeit und Raum mit ihr zu verbringen.
Januar-Liste 2025
- Breaking my silence: Ich liebe hartgekochte Eier! Warum habe ich so lange gebraucht, um diesen tollen Snack endlich wertschätzen zu können?! Ich esse sie gerne Mittags zu einer dicken Scheibe Käsebrot, mit Salz und einer halben, fein geschnittenen Gurke. Cöstlich!
- Bin in letzter Zeit außerdem besessen von Soba, japanischen Nudeln aus Buchweizen. Sie begegnen mir in Podcasts und Romanen, und ich bin sicher: in wenigen Monaten wird man sie vermutlich überall für viel Geld in Berliner Restaurants bestellen können.
- Das Schöne am Winter: wenn es nachts dunkel ist in meiner Wohnung, wirft der Mond sein Licht in den Schnee auf der Terrasse, und taucht mein Zimmer in ein weiches Leuchten.
- »Leider kann man hier keinen Elan kaufen«, sagt P., während wir durch den Künstlerbedarfsladen in der Gottschedstraße schlendern.
- Alle paar Jahre lasse ich neue Fotos von mir machen. Ich sehe mein Gesicht, und das Gesicht auf den Fotos von vor fünf Jahren, und wie sehr sich fünf Jahre bemerkbar machen. So ist es wohl.
- Montag Nachmittag. Eine Frau heult in der U-Bahn in ihr Telefon: »Ich bin echt wieder bereit fürs Wochenende!«
- M. nimmt an einem Schnellschach-Turnier teil. Die Teilnehmenden halten verkrampft ihre Hände über die Spielbretter. Das sei die notwendige Handhaltung beim Schachspielen. »Manchmal, wenn man die Spannung hoch genug hält, schwebt einem die Figur sogar zwei oder drei Zentimeter entgegen«, schreibt er mir.
- Wenn nun die digitalen sozialen Netzwerke in sich zusammenfallen, können wir uns endlich wieder auf unsere Offline-Communitys konzentrieren. Ich besuche einen Publix Thursday (sehr empfehlenswert!), treffe einige bekannte Gesichter, und bin dankbar für dieses Netzwerk aus sehr schlauen und sehr guten und sehr echten Menschen.
- Mehrmals am eigenen Leib erfahren: Bei all dem politischen Desaster und der mehr als schiefen Weltlage hilft: Mit Freunden sprechen, und zwar auch über die krudesten Sorgen und Ängste, und auch, wenn sie lächerlich scheinen. Sie aussprechen und sich ernst nehmen, das hilft immer.
- Generell hilft: In die Sonne schauen, so oft es geht. Die ist so hell, dass man alles andere für einen kurzen Moment nicht mehr sieht.
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Zock Zock Zock Zock
Am Silvesterabend stand ich am Fenster und blickte auf die Straße: Gegenüber war eine kleine Gruppe aus Teenagern am Böllern. Ein Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, führte die Gruppe an. Sie trug eine weite Daunenjacke und hatte schwarze Haare. Immer wieder, wie aus dem Nichts, zückte sie eine Pistole und ballerte damit in die Luft. In schnellem Rhythmus, fast wie ein Maschinengewehr, zock-zock-zock-zock-zock. Wer produziert sowas – ein Gerät, das Pyrotechnik in Form einer Waffe in Sekundenschnelle abfeuert?
Hier auf der Hauptstraße, direkt neben dem Supermarkt, gibt es einen Waffenladen. Im Schaufenster stehen riesige Macheten, Butterflys, Nahkampfmesser, vor allem aber auch Schreckschusspistolen und Gewehre in sämtlichen Formen und Größen. Der Laden ist immer ganz gut besucht, wohl, weil er auch Zigaretten verkauft. Vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Clique aus meinem Haus gegenüber dort eine richtige Knarre gönnt, und sie nachts einem scheuen Teenager an die Brust hält, um ihm sein Handy abzuziehen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist einfach nur Silvester.
Dezember-Liste 2024
- Im Kino frage ich den Mann in der Reihe hinter mir, ob mein Kopf in seinem Blickfeld sei. »Ach, wenn er stört, mache ich ihn einfach ab!«, lacht er.
- Was ich wirklich liebe: Wenn meine Freunde für mich einkaufen. Es ist wie eine kleine Wundertüte, die man da bekommt. Unentdeckter Süßkram; nie zuvor gesehene Fertigprodukte; Obst, das man sich niemals kaufen würde. Ich kann es nur empfehlen: Überrascht eure Freunde mal mit einem ganz normalen Einkauf!
- Schlesisches Tor: Ich steige aus der Bahn und sehe, wie ein junger Mann auf den Zug klettert. U-Bahn-Surfen geht an diesem Hochbahnhof besonders gut; es herrscht sowieso immer Chaos und niemand interessiert sich für irgendwen. Alle gucken nur, ein paar Leute filmen ihn. Der Zug fährt an, und ich schüttle nur den Kopf. Manchmal geht es nicht anders, in dieser Stadt.
- M. drückt mir einen roten Umschlag in die Hand, darin ein Brief: Er bedankt sich für sein neues Tattoo, das ich ihm gezeichnet habe, und für unsere Freundschaft. Briefe sind das beste, und Freunde wie M. erst recht!
- Ich beschwere mich darüber, dass mein Kopf nachts immer so friert. P. hat die naheliegende Idee, es doch mal mit einer Schlafmütze zu probieren. Eine Schlafmütze?! Ich sehe mich vor meinem geistigen Auge, verkleidet als Onkel Fritz aus Max und Moritz, und verzweifle. Aber die Eitelkeit hat keinen Platz in meinem Bett. Ich werde es versuchen!
- Ich blättere durch mein Notizbuch, und immer wieder, über das ganze Jahr hinweg, finde ich kleine Cluster, die betitelt sind mit »alles in meinem kopf«, »was gerade los ist«, oder »jetzt«. Darunter folgt dann eine große Aufzählung an Dingen, die ich noch machen muss, die mich gerade beschäftigen, die mir Sorgen bereiten, die mich glücklich machen. Diese kleinen Berge an Gedanken irgendwo abladen zu können, sich nicht davor zu scheuen, sie in Worte zu fassen – das hilft marginal. Sie nochmal zu lesen und zu merken, dass alles eigentlich immer nur halb so wild ist, das hilft dann wirklich.
- Im Zug durch die Schweiz. Die Gleise führen direkt am Ufer des Thunersee entlang. Friedlich und kalt liegt er da, sein Horizont zerfranst im Nebel.
- Im Internet sehe ich ein Meme, auf dem ein Typ sassy auf seinem Motorroller sitzt und entspannt durch die Straßen fährt. Im Titel: »Me heading into 2025 unchanged, because I was never the problem.«