- Der erste richtige Frühlingsabend. Unten im Hof schlägt ein Kind unermüdlich zwei Metallschaufeln aufeinander. Auf das Dach des Altbaus gegenüber sind zwei Jugendliche geklettert, vielleicht für ein romantisches Date, vielleicht als Mutprobe. Sie blicken über die Dächer, wie ich, nur haarscharf weichen wir unseren Blicken aus. Ich habe keine Ahnung, wie die Margeriten auf meinem Balkon den Winter überlebt haben, aber die Blüten sind ganz neu, manche haben sich für die Nacht schon verschlossen. Die untergehende Sonne blitzt in den Metallprofilen der Dächer. Der Himmel ist ganz eben, kein Kondensationsstreifen und keine Wolke teilt ihn. Das Jahr liegt noch weit und offen vor uns.
- Ich treffe E. und J. zum Kaffee. Wir kennen uns bisher nur über das Internet, aber ich folge ihren Arbeiten schon länger und frage ganz neugierig, wie und wann sie ihre Comics zeichnen und Fotos publizieren und wie sie das neben der Arbeit alles schaffen. »The key to being creative is being obsessive«, und damit hat E. wohl recht.
- Was ich mir früher nie erlaubt und in diesem April exzessiv praktiziert habe: Draußen vor der Kneipe sitzen, etwas trinken und den Leuten zusehen. P. und ich reden so vor uns hin und tauschen unfertige Gedanken aus, und danach sind sie meistens klarer. Währenddessen laufen die Leute an uns vorbei und die Sonne blitzt noch einmal auf, und das ist doch wirklich das perfekte Leben.
- Gabriel präsentiert sein neues Buch im Werkbundarchiv. Viele Leute sind da, einige kenne ich von ihren Profilbildern aus dem Internet, einige andere irgendwie aus der Berliner Design-Bubble. Es ist eine dieser Veranstaltungen, in denen ich sitze und merke: Ah, hier bin ich ganz richtig.
- Seit Jahren mal wieder beim Balletttraining gewesen. K. hat mich überredet, und als ich ankomme, ist es, als hätte ich eine Zeitkapsel betreten: Alles ist noch wie 2017; dieser sonnige Berliner Hinterhof, die Musik, die Vorhänge, die Übungen an der Stange und die Mitte mit ihren Drehungen, bei denen ich nicht mitkomme. Und alle sind noch da, und freuen sich, und wieso war ich so lange nicht hier?!
- Ein letztes Mal schwimmen in der Traglufthalle, bevor sie abgebaut und das Freibad im Mai eröffnet wird. Ich bin wehmütig und ziehe ein paar Bahnen mehr. Danach bin ich glücklich und erschöpft. Dieses Schwimmbad hat mich gut über den Winter gebracht: Für Berliner Verhältnisse ist es hier immer entspannt, mittags auch recht leer; es gibt genug Bahnen für alle und die Leute sind freundlich. Ich freue mich nur mittelmäßig auf die Freibad-Saison; Freibäder verbinde ich mit zu coolen Teenagern und Sonnenbrand. Aber vielleicht habe ich das ganz falsch abgespeichert. Im Mai geht es los.
- I saw the future
It was bright and beautiful
None of us were there.
Sounds of Silence
Seit Jahren schläft Richard schlecht. Jede Nacht liegt er unter der gestärkten Bettdecke und malt sich bis ins kleinste Detail aus, wie jemand in sein Haus einbricht. Beim leisesten Knacken, Quietschen und Knarren schreckt er auf. Dann erstarrt er, und begibt sich in einen unaufhaltsamen Gedankenstrudel. Er malt sich aus, wie die fremde Person durch das Treppenhaus schleicht, die leisen Sohlen auf den Stufen. Richard sieht ihre Silhouette im Türrahmen stehen. Er weiß, dass er schon bei dem kleinen Geräusch vorhin die Flucht hätte ergreifen sollen, aber nun ist es zu spät, und er ist versteinert. Ein kleiner Lichtstrahl fällt vom Mond draußen ins Zimmer. Richard zeichnet gedanklich die Fluchtwege aus dem Haus auf, durchs Fenster auf das Vordach, aber er weiß, dass eine Flucht unmöglich wäre; niemals würde er sich und seine Frau überzeugen, das Geräusch ernst zu nehmen. Sie wären gefangen und müssten sich im Nahkampf dem bewaffneten Eindringling stellen. Sie hätten keine Chance. Sie würden beide sterben, und wenn sie nicht sterben würden, würden sie am Schock der Gräueltat zugrunde gehen. Richard würde sein Leben nicht mehr regeln können und das Paar würde alles verlieren. Das alles malt er sich aus, während er in einer Schockstarre und mit riesigen hochgestreckten Ohren im Bett liegt und auf das nächste, kleinste Geräusch wartet.
Frühlingsabend
Der erste richtige Frühlingsabend. Unten im Hof schlägt ein Kind unermüdlich zwei Metallschaufeln aufeinander. Auf das Dach des Altbaus gegenüber sind zwei Jugendliche geklettert, vielleicht für ein romantisches Date, vielleicht als Mutprobe. Sie blicken über die Dächer, wie ich, nur haarscharf weichen wir unseren Blicken aus. Ich habe keine Ahnung, wie die Margeriten auf meinem Balkon den Winter überlebt haben, aber die Blüten sind ganz neu, manche haben sich für die Nacht schon verschlossen. Die untergehende Sonne blitzt in den Metallprofilen der Dächer. Der Himmel ist ganz eben, kein Kondensationsstreifen und keine Wolke teilt ihn. Das Jahr liegt noch weit und offen vor uns.
Ich geh in Flammen auf

Es ist Sommer 2004, und im Kino brennt mir der Film Sommersturm einen kleinen Sonnenbrand ins Bewusstsein. Als im Abspann der Song »Ich bin ich (Wir sind wir)« von Rosenstolz läuft, fühlen ich und viele andere uns einmal kurz nicht wie komplette Aliens. Im Sommer 2004 bin ich 13 Jahre alt.
Ich kenne viele Leute, die so einen Schlüsselmoment mit der Musik von Rosenstolz hatten, ganz egal aus welcher Generation, und egal, ob man deutsche Popmusik mag oder nicht. Rosenstolz war spätestens seit der Jahrtausendwende einfach da. Ich habe die Band kaum aktiv verfolgt oder gehört, kannte neben den einschlägigen Hits relativ wenige Songs, aber trotzdem war diese Band von Peter Plate und AnNa R. so verankert in der deutschen Musiklandschaft, dass dass sich wohl alle irgendwie darauf einigen konnten. Vielleicht, weil sie so einen merkwürdigen Spagat aus Pop und Schlager und Chanson hingekriegt haben, der sich durch alle Altersschichten erstrecken konnte.
Im März ist AnNa R. überraschend verstorben, und online wurden viele dieser Schlüsselmomente und Erinnerungen an ihre Musik geteilt. Ich habe auch nochmal viele Lieder gehört, auch mit Freunden zusammen, und war traurig und auch glücklich, dass Popmusik sich mal wieder als so verbindenderes Element bewiesen hat. Für mich ist vor allem »Ich geh in Flammen auf« ein wichtiges Lied. Beim Nachhören habe ich aber auch das erste Album »Soubrette werd ich nie« für mich entdeckt! Songs mit Titeln wie »Schlampenfieber« oder »Klaus-Trophobie«?! Genial! Das ganze Album klingt extrem nach seinem Erscheinungsjahr 1992, und es ist schön, sich nochmal durch die Jahre zu hören und zu fühlen und dabei ein paar traurige und dankbare YouTube-Kommentare zu lesen.
Manchmal sind die Dinge gar nicht so
Wie man sich’s vorgestellt hat
Sondern besser
Manchmal ist das Einzige was zählt
Dass ich nicht nachdenke
Sondern vergesse
Mach die Lichter an
Ich geh in Flammen auf
März-Liste 2025
- Zurück in Berlin: Kurz vor Sonnenuntergang stehen viele Menschen an der Straßenecke und blicken Richtung Himmel, ihre Smartphones weit nach oben gestreckt. Durch ihre Displays schauen sie in den rotblauen Abendhimmel, den Leuchtstreifen hinterher.
- Eine Frau auf der Straße spricht energisch Gebärden in ihre FaceTime-Unterhaltung, still und laut zugleich.
- Manche Leute haben diese Gabe, durch Witz und radikale Offenheit eine Entspannung zu erzeugen, die es sonst kaum gibt in meinem Leben.
- In der Bahn sitzt ein Wohnungsloser und malt mit Ölfarben ein tristes Bild: Ein graues Haus auf einer grauen Straße unter einem grauen Himmel.
- Morgens sehe ich noch den jungen Tauben auf meinem Balkon beim Strecken und Räkeln zu. Abends ist das Nest leer, am folgenden Morgen ist niemand mehr da. War es das schon? Sind sie ausgezogen? Nach wenigen Tagen Stille erwische ich sie beim Bau eines neuen Nests. So nicht!! Wer hier keine Miete zahlt, muss gehen. Eigenbedarf!
- J. erzählt beim Abendbrot von ihren Zukunftsplänen. Eine kleinere Stadt für die nächsten zehn Jahre, dann raus aufs Land. Sowas habe ich gar nicht, so eine klare Idee. Vielleicht ist mein Zukunftsplan einfach, irgendwann so eine schöne Katze wie Fenchel zu haben.
- Rabea Weihser liest aus ihrem neuen Buch über das Gesicht vor. »Wir können nur frontal in die Welt gucken, während sie uns von allen Seiten sehen kann.«
- Der März ist vorbei, ich hänge durch, die Tage sind schon seit Wochen so lang und enden verschwommen. Was machen wir jetzt?
Februar-Liste 2025
- Auf meiner Terrasse hat sich eine Taube eingenistet. Sie hat einfach meine Schuhe vom Regal geworfen, um ihr Nest zu bauen! Während ich noch recherchiere, wie man mit so einem Gast umgeht, bemerkt E. die beiden winzigen, ockergelben Taubenküken. Die bleiben da jetzt also erst mal.
- Immer wieder dieses ungute Gefühl eines bevorstehenden Unheils. Gleichzeitig bei sämtlichen schrecklichen und tatsächlich passierenden Ereignissen nur noch mit den Schultern zucken: Das ist das eigentliche Unheil.
- Ich sitze am Rechner und versuche zu arbeiten. Alle fünf Minuten kommt der Hund und klopft: Spielen! Kuscheln! Aufmerksamkeit! Wie kann man es ihr verübeln. Ich habe immer Zeit für ein ein fünfminütiges One-on-One mit Gisela.
- Das Licht blendet. Ich halte mit beiden Händen meine Augen zu, und die Dunkelheit eröffnet sich vor mir wie ein Raum, in den ich gucken kann. Ein tiefer, weiter Raum, voller kleiner Sterne. Das erste Mal, dass die Dunkelheit gut tut.
- Wir treffen K. in der Altstadt. Die Zeit löst sich auf, und noch Nachmittags ist es elf Uhr morgens. Ich hätte ewig hier sitzen und mit euch Kaffee trinken können.
- Das erste mal mit Taucherbrille im Meer getaucht (Taucherbrille mit Sehstärke sowieso: Game Changer!). Wie schön die Fische sind. Wie schön die Sonne durch die Wellen bricht. Und die Stille. Wunderschön.
Übrigens: Diese Listen gibt es als Newsletter: Fakten und Mirakel.
Oklou – choke enough
Genre-Beschreibungen haben sich für mich in den letzten Jahren verflüssigt und aufgelöst. Während es vor 20 Jahren noch einfach war, im Alternative-CD-Regal ein Shoegaze-Album am Cover zu erkennen, sind die heutigen tausendfach zersplitterten Sub-Genres und Wortschöpfungen sowohl seitens Artist, Producer, Label und digitaler Musikkataloge nur noch schwer zu navigieren. Ich brauche also andere Parameter, um neue Musik zu entdecken, wenn ich mich dabei nicht nur auf Algorithmen verlassen möchte.
Vor einiger Zeit bin ich von Spotify zurück zu iTunes bzw. Apple Music gewechselt. Die Gründe waren vielfältig: Das Spotify Interface war mir zu sperrig, die Plattform vermischte mir zu viele Medien, und der Fokus auf Vibe anstatt auf Künstler·innen ist nicht, was ich suche. Apple Music verkauft ein ebenso gurkiges und fehlerhaftes Interface, aber immerhin sitzt es bräsig auf meiner gut 20 Jahre alten Musiksammlung, die ich nach wie vor gerne höre, und gar nicht so viel neues brauche. Ich kaufe ab und an Alben von Künstler·innen auf Bandcamp, und die Möglichkeit, streamingfreie Playlists anzulegen und nostalgisch auf meinen iPod zu laden, füllt mich mit Glück.
Wie dem auch sei: Apple Music bietet die Funktion, Songinfos einzublenden, und verrät mir ohne viele Umwege, wer die Songs geschrieben, produziert und gemixt hat. Früher konnte ich mit diesen Infos wenig anfangen, aber heute habe ich immerhin ein paar Namen, die mir etwas sagen und mit denen ich etwas verbinde.
A. G. Cook ist einer davon. Bekannt vor allem als Creative Director, Produzent und langjähriger Kollaborateur von Charli xcx, hat er mit PC Music ein Musikgenre (»Hyperpop«) etabliert, das mich genau da abgeholt hat, wo ich mit Anfang 20 ausgestiegen bin: Elektronische, fast ironische Popmusik, die sich verquer (queer?) anhört und die auditiv als auch visuell und gestalterisch überpoliert ist. Seine eigenen Alben sind so flächig und detailliert, um gerade noch nicht im Hintergrund zu laufen, und dann setzen sie einem einen wochenlangen Ohrwurm ins Ohr.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Unter anderem anhand dieser PC Music Armee hangele ich mich durch Veröffentlichungen, und erkenne Namen und Künster·innen wieder. Zuletzt: die französische Musikerin Oklou. Gerade hat sie ihr Debütalbum herausbracht: choke enough.
Das Album läuft seit Veröffentlichung bei mir ununterbrochen. Auch A. G. Cook hat zwei Tracks mitproduziert (thank you for recording und ict) – man hört das, und dennoch ist das Album ganz anders und nicht direkt Hyperpop. Eine mittelmäßig positive Musikexpress-Rezension beschreibt das Genre als Bedroom-Synth-Pop, und das trifft wirklich haargenau die Musik, auf die ich aus bin.
Oklou – choke enough
Release am 7. Februar 2025 auf True Panther Sounds
Anhören/kaufen auf Bandcamp