Seit einigen Jahren spukt durch meinen queeren Freundeskreis die Frage: »Wohin geht ihr, wenn die an die Macht kommen?« Man fragt es sich abends beim gemeinsamen Essen oder draußen im Park beim Picknick unter Regenbogenfahnen. »In welchem Land können wir dann sicher leben?« Ich habe mich immer ein wenig gegen diese Frage und Überlegung gesträubt. Vielleicht fand ich sie übertrieben, vielleicht zu unbequem. Aber ab und an merke ich, wie sie sich auch in meinem Kopf eingenistet hat, und vor sich hin geistert. Wir schleichen um sie herum, so wie das blaue Gespenst um uns.
Aber rumsitzen und ihm zusehen ist ja auch keine Option. Ich fand den Vortrag von Arne Semsrott auf der diesjährigen re:publica sehr gut: »Machtübernahme: Was tun, wenn die AfD an die Regierung kommt?« (YouTube). Arne hat dieses Jahr ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht (»Machtübernahme«), und sein Talk ist eine gute Einleitung (oder Kurzfassung? Ich habe das Buch zugegebenermaßen nicht gelesen) ins Thema.
Was tun, wenn die Brandmauer brennt und die AfD in Ministerien einzieht? Was lang unmöglich schien, kann in diesem Jahr passieren: Bei EU-, Landtags- und Kommunalwahlen hat die AfD teils gute Chancen, zur stärksten Kraft zu werden. Lasst uns darüber sprechen, was wir tun können, wenn es zu spät ist.
Er skizziert im Vortrag ganz gut den schleichenden Prozess, mit dem die AfD teilweise heute schon demokratische Prozesse aushöhlt. Er benennt das immer fortlaufende »Ist schlimm, aber doch nicht ganz so schlimm wie befürchtet« Gefühl, das mit jedem Wahlerfolg der Partei neu aufkommt (vgl. der Frosch, der im immer heißer werdenden Wasser sitzt), und macht klar, wie die AfD Schritt für Schritt in Entscheidungspositionen kommen kann und so unsere Rechte und Freiheiten eindämmen könnte.
Außerdem nennt Arne fünf Handlungsmöglichkeiten, die wir jetzt schon angehen und beachten können:
Offene Räume schaffen, die Sicherheit und Platz für konstruktive Debatten schaffen (Publix, das neue Haus für Journalismus, mit dem ich zusammenarbeite, wird bspw. so ein Ort. Digitale Räume wie die Wikipedia gehört da auch dazu!)
Für mehr Demokratie kämpfen. As in: Nicht nur den Status Quo verteidigen, sondern mehr einfordern, und eigene Visionen anbieten und vorantreiben.
Datenschutz. Ja, nervig, aber wichtig: Je weniger Daten und Infos antidemokratische Parteien wie die AfD bekommen können, desto weniger handlungsfähig sind sie.
Spenden. Demokratische Arbeit kostet Geld, und wenn die AfD mehr Macht bekommt, bekommen Demokratieinitiativen noch weniger oder gar keine Gelder mehr.
Prepping for Future. Soll heißen: Sich mental auf den Ernstfall vorbereiten. Wen rufe ich an, wenn das nächste Wahlergebnis Angst macht? Wie kann ich mich solidarisch zeigen? Wie können wir verbunden bleiben? Dazu gehört Zugewandtheit und Wachsamkeit, und das ist nicht viel aufwändiger als »mal wieder anzurufen«. Oder eben solchen Sorgen wie der ganz oben beschriebenen nicht direkt aus dem Weg zu gehen.
Der ganze Vortrag (28 Minuten) ist kostenfrei auf YouTube verfügbar.