Vier Texte über Austern

Image of an oyster

1 — Als Kind war ich besessen von Schalentieren. Nicht davon, sie zu essen, sondern von ihrer Form, ihrem Material, ihrem Mythos. Einmal kam mein Vater von einer Dienstreise zurück und brachte mir die Schalen echter Austern mit. Nur für mich habe er sie gegessen! In dem Moment war ich zwar begeistert, die von ihm aufgebrachte Überwindung war mir aber nicht ganz klar. Doch jedes Mal, wenn ich heute daran denke, wächst meine Wertschätzung für diese Geste.

2 — Bei einem Spaziergang auf der Friedrichstraße biegen wir, suchend nach einem Platz zum Sitzen, in eine Seitenstraße ein. Alle Geschäfte haben geschlossen, aber vor dem Restaurant Austernbank gibt es, na ja, eine Bank. Zufrieden lassen wir uns nieder, und erst nach einer Weile merken wir: Die oberen Ablagen der Bank-Konstruktion sind komplett mit leeren, toten Austern gefüllt. Als Kind wäre ich ausgeflippt vor Freude – heute fühlt sich diese Dekoration irgendwie nicht ganz richtig an.

3 — Als Freund der großen Geste suche ich stets nach den glanzvollen Momenten im Alltag. Mein Tipp: Eine Tomate lässt sich ähnlich theatralisch genießen wie eine Auster! Einfach eine große Tomate halbieren, eine Hälfte auf den Fingern platzieren, mit Salz bestreuen, und zum Mund führen. Dann mit gespitzten Lippen das Fruchtfleisch aussaugen, und dabei genussvoll schmatzen. Dazu ein Glas Sekt, köstlich. Fleischtomaten – Die Austern des Fußvolks!

4 — Austern sind mir nix. Zu schleimig, zu lebendig, und auch zu dekadent. Aber anlässlich meines Geburtstags will ich mir die Festlichkeit ein wenig vorspielen, und wir bestellen in einem schicken Restaurant Austern. Das Getue gefällt mir – wie sie serviert werden, wie man sie mit Soße oder Zitrone beträufelt. Aber schmecken tun sie mir nicht. Ich erinnere mich wieder an meinen Vater und seine Aufopferung, nur für meine merkwürdig kindliche Begeisterung.