Die Stadt ist wach hinter Mauern aus Glas. Zehn Jahre Berlin

10 Jahre Berlin

Im Sommer 2009 sitzen mein Vater, Roman und ich in dem kleinen Dönerladen am Hertzbergplatz mit dem klingenden Namen Traumeck. Neukölln gilt als runtergekommener Stadtteil mit Potential; insgeheim wissen aber alle, dass hier die Mieten in den nächsten zehn Jahren um 99 Prozent steigen werden. Wir suchen eine Wohnung für Roman, Kathi und mich.

Ein paar Monate später, eigentlich genau jetzt vor zehn Jahren, sind wir dann gelandet: In einer WG in Neukölln, in einem Altbau mit riesigen, hohen Zimmern, mit kreativen Studienplätzen und vielen verrückten Phasen; wir haben unsere Leben komplett hierher verlegt, und wir sind immer noch hier. Ehrlich gesagt ist es in den allermeisten Aspekten meines Lebens so, als wäre ich nie woanders gewesen. Mit 17 kam ich her, und alles, was davor passiert ist, fühlt sich in der Retrospektive an, als wäre es nur so halb oder zumindest mit sehr wenig Elan passiert.

Stimmt natürlich nicht. Aber dennoch waren die letzten zehn Jahre mit die prägendsten in meinem Leben. Berlin ist immer noch die Stadt, die mich nicht los lässt; auch wenn sie mir regelmäßig auf den Kopf fällt. Um dieser Schwere entgegen zu wirken, hier eine leicht verdauliche Liste meiner letzten Dekade in dieser Stadt:

  • Das selbstbetitelte Album von The XX erscheint 2009, und es funktioniert immer noch – kaum etwas hat das erste neue Lebensjahr so vertont und verinnerlicht wie diese Musik.
  • Weekday war damals modisch das Aufregendste, was meinem Teenager-Körper passieren konnte. Und American Apparel sowieso – wie uns diese Firma 2009 alle in sehr enge Hosen und diese schrecklichen V-Ausschnitt-Shirts plus Opa-Cardigans gekleidet hat. Unfassbar.
  • Während heute die New Yorker Totebag das ultimative Hipsteraccessoire ist, war es 2009 definitiv der Do You Read Me?! Beutel. Wer von euch hat ihn noch?
  • Sowieso, Beutel: Was sollte das?! Alles wurde in Stoffbeuteln transportiert; auch wenn es viel zu viel und zu schwer und unhandlich war. Noch heute klemmt mir das Zetern meines Freundes B. im Ohr: »Lieber 20 Beutel als ein Rucksack!!!«
  • Meine Freundin J. hat mir zum Umzug damals eine Bauchtausche von Eastpak geschenkt – damit ich »in Neukölln zwischen den ganzen coolen Jungs nicht so raus falle«. Heute heißt sowas Dealerbag und ist ein nicht mehr wegzudenkendes Alltagsaccessoire für alle, die gerne rauchend oder kaffeetrinkend in Parks, Cafés, Agenturen und Clubs rumstehen.
  • À propos Clubs: 2009 wusste ich nicht mal, was das Berghain ist. Ein paar Jahre später ging ich jedes Wochenende ein und aus, um dann irgendwann zu merken, dass es doch auch sinnvollere Dinge gibt, die man an seinen freien Sonntagen machen kann. Selten hat mich ein Mythos aber so mitgerissen, und ich finde es sowohl albern als auch nach wie vor faszinierend.
  • Wenn es einen Club gibt, den ich wirklich vermisse, ist dass das NBI; das sich früher immer nach Wohnzimmer angefühlt hat. Hier war ich auf meiner ersten Berliner Party mit Kiwi, und hier hat das schönste Konzert von Me Succeeds stattgefunden. Der Ort (der jetzt ein Gravis-Store ist …) hat ein Nostalgie-Gefühl in sich, dass ich noch in 20, 40, 60 Jahren kennen werde.
  • Während mir zu Schulzeiten prophezeit wurde, dass ich eins dieser Ritalin-Opfer werden würde, die ihre Bedeutungssucht durch leistungssteigernde Mittel befriedigen, habe ich bisher stets die Finger von Drogen gelassen – und auch erst Jahre später gemerkt, dass ich damit einer der wenigen in dieser Stadt bin. Ich finde Drogen nicht mehr so schockierend und angsteinflößend wie früher, aber reizen tun sie mich genau so wenig wie damals. Gibt’s Ritalin überhaupt noch?!
  • Eine der schlimmsten Erinnerungen ist vermutlich die Silvesternacht auf der Warschauer Brücke. Im Nachhinein einfach ein sehr großer Faux-Pas aus Jugendlichkeit und Zugezogenen-Naivität.
  • Was immer noch nervt an dieser Stadt: Dass es in Parks keinen Rasen und keine Sitzgelegenheiten gibt.
  • Und dass man überall hin 30 Minuten braucht. Mindestens.
  • 10 Jahre Berlin sind auch: Eine Jugendliebe, zwei Umzüge, sehr viele Ballettstunden, dreieinhalb Jahre Agenturleben, zweieinhalb Jahre Therapie, zwei Studienabschlüsse, zwei Festanstellungen, ein geklautes Fahrrad, ein gebrochener Arm, drei Besuche in der Notaufnahme, einige merkwürdige Begegnungen, ein CSD-Besuch, eine Hand voll sehr guter, enger, neuer oder intensivierter Freundschaften, sechs Monate im Ausland, und so wenige Silvesterabende wie möglich in dieser Stadt.

Ob ich hier bleibe? Vor zehn Jahren hätte sich diese Frage nicht gestellt. Vor drei Jahren habe ich zum ersten mal gegrübelt, ob ich hier glücklich werden kann. Dieses Jahr sage ich: Für immer hier bleiben muss nicht sein. Aber solange hier alles ist, was ich liebe, gibt es keinen Grund, zu gehen. Also auf die nächsten Monate, oder Jahre, oder Dekaden.