Rilke: Das Stunden-Buch

Cover zu Rilkes Stunden-Buch als Insel Taschenbuch; gestaltet von Willy Fleckhaus, der auch für das ikonische Design der Suhrkamp-Taschenbücher verantwortlich ist.

Jahrelang hing über dem Schreibtisch meines Jugendzimmers ein Stück Karton, auf dem ein Vers aus Rilkes Gedichtzyklus Das Stunden-Buch stand. Ich erinnere mich nicht, woher ich die Zeilen hatte, vielleicht aus einem Film oder einer Deutschstunde, jedenfalls haben sie sich fest in meinen Kopf gebrannt. Und ohne ihre genaue Bedeutung oder ihren Kontext zu verstehen, hielt ich sie für relevant oder schön genug, um jeden Tag daran erinnert zu werden:

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

Ich kenne mich mit Gedichten nicht aus; meistens finde ich es schwierig sie überhaupt richtig zu lesen. Am ehesten funktioniert Lyrik für mich als Vortrag; so hört man immerhin, welche Stimmung intendiert war. Und je mehr ich über den Kontext des Stunden-Buchs lese, desto weniger räsoniert es mit mir: Ein Großteil im Buch dreht sich im Rilkes Beziehung zu Gott (Stundenbücher oder Horarien nannte man Gebetsbücher zum Stundengebet).

Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum.
Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille
und werde mächtig aller Herrlichkeit
und ründe mich wie eine Sternenstille
über der wunderlichen Stadt der Zeit.

Für Laien wie mich funktionieren die meisten Verse aber auch ohne religiösen Kontext. Fast besser noch: Die rhythmische Sprache kann gelesen werden wie eine Andacht, aber an das Leben selbst, oder an eine Person, oder sogar an sich selbst:

Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,
und will niemals blind sein oder zu alt
um dein schweres, schwankendes Bild zu halten.
Ich will mich entfalten.
Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild das ich sah,
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichsten Sturm.

Ich habe die Zeilen damals alle als Liebesgedichte gelesen. Ganz ohne Gottesbezug, sondern mit dem Gedanken an eine Person; als weltliche Ansprache. Und auch jetzt, wo ich mehr Kontext zu den Gedichten habe, denke ich beim Lesen sofort an Personen – nicht immer an eine bestimmte, aber doch immer an eine direkte Beziehung zu sich oder anderen. Die Vehemenz; die kompromisslose Zugewandtheit der Verse ist das, was mich jedes Mal erschaudern lässt.